vonSchröder & Kalender 01.12.2007

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.

Im Oktober 1998 begannen Barbara und ich, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach das März-Archiv zu ordnen. Unsere Freunde Helga Hornung und Michael Schreiner besuchten uns, wir tranken in unserem Appartement im Collegienhaus einen Kaffee, gingen abends in die Stadt zum Essen und kamen auf dem Rückweg in einen Platzregen. Helga spannte ihren siebbedruckten Rauschenberg-Regenschirm auf, den sie in New York gekauft hat, und ich unser rotkariertes Ungetüm. So taperten wir zurück zur Schillerhöhe. Im Tischtennisraum wollten wir Wein aus dem Getränkeautomaten ziehen, da bekam Michael runde Augen: »Jörg, ich hab’ ja ewig nicht mehr Tischtennis gespielt!« »Ich auch nicht«, sagte ich. Wir nahmen jeder einen der Schaumgummischläger, die auf der Platte lagen, und er nun ganz bescheiden: »Ich war doch mal mit der Mannschaft von Dudweiler Saar-Jugendmeister.« Na, das Saarland ist ja bekanntlich nicht so groß. »Ich habe zuletzt in der Staatlichen Oberschule für Jungen in Rinteln an der Weser gespielt«, antwortete ich, »Tischtennis ist eben der Sport der frühen Jahre.« Wir schlagen ein bißchen hin und her, tick, tock, tick, tock … und plötzlich kommen sie, die schönen langen, flachen Bälle, angeschnittene Schmetterbälle wie in alten Zeiten. Begeisterung auf Michaels Gesicht über die tollen Ballwechsel, es wurde geschnippelt, und bei einem seiner langen Bälle sprang ich zurück, da stand aber eine Kiste mit »Bönnigheimer Stromberg, 1996 Riesling, Qualitätswein, Erzeugerabfüllung, 10,5 %«, und wie in einem dieser Actionfilme fegte mir die Weinkiste die Beine weg.

Den Sturz selber bekam ich gar nicht richtig mit. Barbara und Helga bestätigten es hinterher einstimmig: »Ohne Übertreibung, es sah aus wie ein Genickbruch.« Denn da stand nicht nur die Weinkiste mit leeren Flaschen hinter mir, sondern neben dem Getränkeautomaten auch noch ein runder halbhoher Tisch. Jedenfalls schlug ich nicht mit dem Genick, sondern mit dem Ohr auf die Kante dieses Buchenholztisches. Glücklicherweise hatten die Frauen es dramatischer gesehen, sonst könnte ich die Geschichte ja nicht mehr erzählen. Dennoch – es reichte: Ein Blutstrom schoß aus der Wunde, das Ohr war drei Zentimeter aufgeschlitzt und mein Ohrläppchen hing entsprechend tiefer. Barbara und Helga schrien entsetzt auf, und der Tischtennismeister wiederholte blaß und fast tonlos immer wieder: »Das war mein Ball. Ich hab’ einen blöden Ball gespielt.« Ich war ziemlich ruhig, als Verletzter bist du ja meist weniger aufgeregt als die anderen, preßte mir Papiertaschentücher aufs Ohr und entschied: »Wir müssen ins Krankenhaus fahren.« Also hoch ins Appartement, Michael rief ein Taxi: »Schicken Sie bitte schnell einen Wagen ins Collegienhaus, hier hat sich jemand am Ohr verletzt, das muß sofort genäht werden.« Dann telefonierte er noch mit der Unfallstation des Krankenhauses und meldete mich an.

Schon war das Taxi da, ein junger Fahrer mit starkem balkanischem Akzent – Bosnier, wie er auf Befragen mitteilte – fuhr halsbrecherisch die Schiller-Serpentinen runter. Eigentlich sind das Gehwege und nicht für Autos bestimmt. Im selben Stil düste er auch durch die Fußgängerzone des Städtchens. Sofort hatten wir die allgegenwärtige Polizeipatrouille hinter uns; die haben hier nicht viel zu tun, denn Marbach beherbergt keine Verbrecher, sondern nur das bedeutende Schiller-Institut oben auf dem Hügel, da gibt es keine Untaten! Deshalb muß sich die Polizei die Delikte sozusagen selber erschaffen oder mühsam suchen. Jetzt hatten sie endlich mal einen erwischt! Der bosnische Fahrer plierte grinsend in den Rückspiegel, weil sie uns folgten. Als er vor dem Krankenhaus anhielt, stieg ein schwäbischer Polizist aus und ging auf das Taxi zu. Unser Fahrer rief ungefragt: »Isse Notfall, Ohre bluten, misse nähe!« Der Polizist versuchte es standhaft: »Deswege brauchet Se net wie a Wahnsinniger durch d’ Fußgängerzon’ z’ brause!« »Notfall!« »Notarzt!« »Erste Hilfe!« »Muß sofort genäht werden!« schrien Barbara, Helga und Michael aufgeregt durcheinander, während ich meine Taschentuchkompresse ein wenig lupfte. Das Blut floß, der Polizist sprang zurück, und der Taxifahrer erklärte mir seelenruhig: »Ahh, Polizei suche immer wasse.«

Im Korridor vor der Notfallstation stand schon das Empfangskomitee: ein junger Arzt und zwei Schwestern. »Sind Sie der Mann mit der Ohrverletzung?« Zack, eine Tetanus-, dann eine Betäubungsspritze. »Bitte auf die Seite legen«, sagte der Arzt, »das ist eine lange Rißwunde mit zerfetzten Wundrändern. Damit es später kosmetisch wieder gut aussieht, muß ich ziemlich viel nähen. Das wird eine Weile dauern.« Er nähte mir das linke Ohrläppchen mit acht Stichen wieder an und war so in seine Arbeit vertieft, daß er sich nicht um das Blut kümmerte, das mir ins Ohr floß. Nach der Operation meldete ich mich bei der Schwester, die gab mir ein Wattestäbchen, damit sollte ich das Blut aufsaugen, es blieb aber genug drin.

(Fortsetzung folgt)

(BK / JS)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2007/12/01/marbacher-verletzungen-1/

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kommentare

  • so,oder so ähnlich werden/wurden schlizzohren gemacht:selbst,aktiv;sonst galt es nicht.Fällt aber nicht auf.Gute arbeit,Marbach eben.Alles Gute:sport ist mord….

  • Lieber Stephan Roth, wir haben den letzten Satz aus Ihrem Kommentar weggelassen, weil er um drei Buchstaben zu kryptisch war – oder sollen wir besser sagen: zu antikryptisch. Umso lieber bringen wir Kapielskis Volltext über den Pingpong-Spieler Dr. Döblin. Beste Grüße Barbara Kalender und Jörg Schröder

  • Wieso wurde der Kommentar um den kryptischen Hinweis auf diesen Kapielskieintrag gekürzt:

    14. Juli 2007
    Gartenangelegenheiten
    Der Garten da unten, wo Döblins Tischtennisplatte steht, ist leider nicht der mir überlassene, dann sähe er anders aus, weil ich ihn lieben würde, ganz körperlich (bäuchlings Spargelstechen)! Und ich würde zum Salat- und Schneckenfresser, denn Gemüse müßte auch sein. Und Stachelbeeren, gerötet sonnenwarme, vom Strauche gepflückt, mich stopfend noch und noch! O ha!

    Im Hause drüben, ich sehe es von meinem Balkon aus, wohnte Döblin und praktizierte als Onkel Doktor von 1930 bis 1933, mußte dann nach Amerika flüchten. Rechts neben dem Eingang am Kaiserdamm eine Erinnerungstafel aus schnödem Kunststoff; die ursprüngliche, von der Königlichen Porzellanmanufaktur gefertigte, wurde am 14. März 2005 gestohlen. Den Dieb mögen schwärende Zweifel quälen und zur Einsicht bekehren, sie wieder zurückzutragen.

    Derweil bewache ich von meinem Ansitz aus seine Sportstätte im Hofgarten. Dort gewahrt man sie, die schlichte, genau 57 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Tischtennisplatte aus Beton, an welcher der wortwuchtuge Nervenarzt mit seinen Helferinnen wahlweise zu zweit gewöhnliches Pingpong oder zu dritt, vielleicht auch zu viert, fünft China während der mittäglichen Pausen zwischen den Sprechzeiten spielte. Heißa! Wie sie da in ihren weißen Kitteln ums Rechteck jagten!

    Veröffentlicht um : 09:17. | Beitrag von : kapielski

    Hm, hat er seine Subskriptionsrechnung nicht bezahlt?

    Ok, dann bezahle ich die jetzt, kann nach nichtöffentlicher Absprache geregelt werden, ich darf aber zuerst lesen und schicke die guten Stücke dann weiter, falls es so ist. Ansonsten behalte ich sie selbstverständlich.

    Oder ich verrate, daß Kapielski vor ca. 20 jahren nicht mal ein Bierfaß anzustechen in der Lage war… ich lüge nicht…

  • Aua, äh süss…

    So was kann man auch noch im aktiven Alter erleben, wenn man mit 18 in eine regionale Tischtennismeisterin verliebt ist, die übrigens auch Barbara hieß, und aussah wie Farrah Fawcett… da ist kein ankommen gegen die flach und hart geschlagenen Bälle, da darf man sich dann als Amateur halt ständig umschauen: Wo ist das Teil?

    Das gegen Getränkekisten fallen habe ich mir aber erspart, leider, doch das ist eine gute Idee! Denn da wäre auch Frau pseudo-Fawcett ganz fürsorglich geworden…

    Hinterher ist man immer schlauer…

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