vonSchröder & Kalender 15.05.2008

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in südöstlicher Richtung.

Auf vielfachen Wunsch bringen wir als Ergänzung zum Fall ›Havemann‹ unsere Erzählung zur Produktionsgeschichte von Florian Havemanns Buch ›Auszüge aus den Tafeln des Schicksals aus der Folge von ›Schröder erzählt‹ mit dem Titel ›Sieben Sachen‹:

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Zum Berliner Beziehungsgeflecht gehörte auch Anne Duden, die bis 1979 im Rotbuch Verlag arbeitete. Damals war sie mit Christian Schultz-Gerstein befreundet, wir trafen uns oft gemeinsam. Von ihr kam der Hinweis, mich um Florian Havemann zu kümmern, ein junges Genie, von dem ich unbedingt ein Buch machen müsse. Ich verabredete mich mit ihm im ›Ciao‹, dem Italiener gegenüber der Schaubühne am Lehniner Platz. Florian brachte seinen Freund Thomas Brasch mit, beide waren sie Kinder prominenter Väter: Havemann regimefeindlicher Professor, Brasch regimekonformer Staatssekretär. Beide Söhne waren wegen ihrer Abkunft hochrangige DDR-Dissidenten und saßen gemeinsam drei Jahre im Knast, bevor sie in den Westen gingen. Florian schrieb nach seiner Ankunft einen vielbeachteten Aufsatz im ›Spiegel‹, in dem er sich kritisch mit dem Dissidententum seines Vaters auseinandersetzte. Thomas Brasch verließ die DDR werbewirksam, fuhr nach seiner Ausweisung direkt zur Suhrkamp-Pressekonferenz auf der Frankfurter Buchmesse durch. Da hatten wir uns zwei Jahre zuvor kennengelernt und angefreundet.

Als ich Florian Havemann im ›Ciao‹ das erste Mal sah, verbreitete er – ganz Sohn des König Artus der DDR-Opposition – eine Aura von Exklusivität und spielte den Durchblicker beider deutscher Republiken. Das fand ich zwar exaltiert, dachte mir aber, aus dieser Melange könnte ein interessanter Autor werden. Florian wollte nach dem Vorbild der Brechtschen ›Arbeitsjournale‹ seine Texte in Heften veröffentlichen und darin seine Gedanken zu Kunst, Architektur, Literatur und Gesellschaft versammeln. »Ich stelle mir etwas anderes vor«, erklärte ich ihm, »eine richtige Geschichte zwischen zwei festen Deckeln, zweihundertvierzig oder auch vierhundert Seiten, Florian Havemann mit Nina Hagen im Sandkasten, Biermann beim Kaffeekränzchen im Camelot, Florian und Thomas im Knast, Erinnerungen an deine Jugend in Berlin als Sohn des Gegenpapstes im Arbeiter- und Bauernstaat.« Nein, Florian wollte keinen autobiographischen Roman schreiben, bestand auf seinen Heften in billigster Aufmachung: »Schmale Bändchen, nur durch den Rücken geklammert!« Er ließ sich darin auch nicht von Thomas Brasch umstimmen. Ich gab es auf: »Also gut, meinetwegen, mach deine einfachen ›Arbeitsjournale‹, ich schicke dir einen Vertrag.«

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Von wegen einfach! Der Band enthielt dann zweihundert großformatige Fotos, im Laufe der Produktion hatte Florian die bescheidenen Ansprüche dramatisch erhöht. Er zwiebelte mich zu einer Prachtausgabe hoch – und von wegen billiges Papier! Dem Hersteller Franz Greno kamen die Schweißtropfen! Der Autor verlangte bestes 135-g/qm-Kunstdruckpapier, das Format mußte quer sein – sehr ungünstig zu drucken. Das Buch ist fünfundzwanzig Millimeter stark, hat einen massiven Leineneinband, ist fadengeheftet und wiegt tausenddreihundert Gramm, Auflage fünftausend. Der Titel lautet: ›Auszüge aus den Tafeln des Schicksals. Ein Porträt von Velimir Chlebnikov 1977 und 1979‹. Havemanns Dokumentation einer Geh-Performance gemahnt an die frühen Tage von Fluxus, und da die Bilder vom Videoschirm abfotografiert wurden, waren sie entsprechend schemenhaft. Die Texte zu den Fotos sind überwiegend Bruchstücke aus dem Prosawerk des Dichters Velimir Chlebnikov. Dieser Pionier des Futurismus hatte darin Texte zur Politik, Wissenschaft und Kunst collagiert. Florian Havemann verschnitt nun Chlebnikovs genuin kryptische Versatzstücke nochmals mit Sätzen anderer Geister: des Erfinders des Fließbands, Henry Ford, des Leiters des Moskauer Arbeitsinstituts, Gastev, des Architekten Le Corbusier, des Raketenkonstrukteurs Wernher von Braun, Lenins und schließlich auch mit Zitaten seines Vaters Robert Havemann. Der war Physikprofessor gewesen und hatte eine Apparatur erfunden, um Muttermilch abzupumpen. Außerdem war er mit Vorschlägen zu Fragen der Verkehrspolitik hervorgetreten.

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Der Sinn solcher Dialogbruchstücke von Havemanns Geh-Theater ist also hermetisch, wie das folgende Beispiel zeigt: »Gespräch 3 – Worüber hast du in der ganzen Zeit nachgedacht? – Womit beschäftigen sich die Schriftsteller? Warum aber sollte es nicht langweilig sein? Aber ist es dir auch nicht langweilig? – Nein, nein, nicht im geringsten. Fahre fort! – Über vieles müßte man besser berichten, als das getan wird. – Du redest wie ein Kind. Aber was hast du gefunden? – Kant, der die Grenzen des menschlichen Verstandes bestimmen wollte, Langeweile soll aber nicht langweilig sein, hat die Grenzen des deutschen Verstandes bestimmt. Zerstreutheit eines Gelehrten. – Hier höre ich gewichtige Wahrheiten. – Jawohl, so kann man es auch ausdrücken.« Solch ein Text bleibt den meisten Lesern unverständlich – mich eingeschlossen –, insofern hatte sich Florian seines Vorbilds Chlebnikov würdig erwiesen, dessen Lyrik der sinnüberschreitenden Sprache ebenfalls dunkel ist.

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(wird fortgesetzt)

(FH / BK / JS)

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