vonSchröder & Kalender 22.11.2008

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Es ist dunkel, wir sehen also nicht, wie der Bär flattert.
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Das Layout war fertig, ich zog in der letzten Novemberwoche mit meinen Mappen voller Texte und Illustrationen ins DuMont-Pressehaus in die Breitestraße in Köln. Die ›Kiepe‹ erschien zweimal im Jahr, im Frühjahr und vor Weihnachten, die Kunden sollten nach der Lektüre dieser literarischen Hauszeitschrift in die Buchhandlungen strömen und Bücher des Verlags Kiepenheuer und Witsch kaufen. Direkt lieferten wir nicht, das verboten das Ethos eines jeden Verlages und die Verkehrs- und Verkaufsordnung des Börsenvereins.

Gegen achtzehn Uhr hatte ich mich im Druckhaus eingefunden, bekam einen Tisch in der Mettage zugewiesen, brachte die Texte in die Setzerei, wo die Spalten auf den ratternden Linotypes gesetzt wurden. Ich kürzte in den Bürstenabzügen, klebte die Spalten auf mein Layout. Ein Metteur baute danach mit den Bleispalten die Seiten auf. Inzwischen kamen bereits die ersten Klischees von Jerome D. Salinger und Marek Hlasko aus der Reprographie. Zwei Seiten wuchsen, zehn Seiten zu umbrechen, würde ein paar Stunden dauern. An den anderen Tischen der Mettage arbeiteten die Redakteure und Metteure des ›Kölner Stadtanzeigers‹, in einem hinteren Teil des Saales wurde die Nordrhein-Westfalen-Ausgabe der ›Bild‹-Zeitung produziert.

Gerade will ich mich auf den Weg machen, um dem Setzer Korrekturfahnen zu bringen, da entsteht eine sonderbare Bewegung, ein Sog, alle Redakteure und Metteure zieht es in dieselbe Richtung. Dann, es ist so etwa halb neun, stehe ich in einer Traube von zwanzig Leuten um das Funkgerät der ›Bild‹-Zeitung herum, die ›Schalte‹, aus dem per Lautsprecher eine Stimme tönt: »Es ist etwas mit Kennedy. Der Präsident ist in Texas verunglückt, Genaueres wissen wir noch nicht, offenbar lebt er. Muß sofort in den Andruck auf die erste Seite für den zweiten Schub.«

Jetzt kroch auch schon ein neuer verkleinerter Entwurf aus dem Bildfunkgerät – einer Art frühem Pressefax, die Maschine kostete sicher ein Vermögen –, zwei Wörter untereinander, blattbreit: »Kennedy verunglückt«. Ich hing als Beere in der Traube und lauschte Peter Boenisch, der als Chefredakteur in Hamburg am Balken saß, hörte, was seine Redakteure ihm an neuen Meldungen brachten. Für den dritten Schub wurde die Schlagzeile »Schüsse auf Kennedy« gewählt, und ein neuer Text entstand aus den spärlichen Informationen: der texanische Gouverneur John Connally verletzt, Kennedy wird operiert, Jackie unversehrt. Schon wieder kroch ein Entwurf aus dem Bildfunk: »Dallas: Attentat auf Kennedy«. Der Chefmetteur riß das Papier aus dem Gerät, um nach der Vorlage die neue Schlagzeile abzusetzen. Dallas, zum ersten Mal nahm ich die Existenz dieser Stadt überhaupt zur Kenntnis. Ja genau, ich wußte nicht, daß es die Hauptstadt von Texas ist. Meinetwegen schlechte Allgemeinbildung, die hatte ich aber gemein mit den Redakteuren, die vor dem Gerät hingen. Jetzt vierter Schub: Wieder nichts Konkretes, aber aus diesem Quasi-Nichts entstand eine Dichtung über das Krankenhaus in Dallas, in dem Kennedy behandelt werde, eine abstruse Terroristengeschichte mit drei Schüssen und drei flüchtigen Attentätern, die sich der Chefredakteur Boenisch wegen der zunächst verhängten Nachrichtensperre aus den Fingern sog und die der Wahrheit, welche zehn Jahre später langsam ans Licht kam, sehr viel näher war als die offizielle Ein-Täter-Version.

Schade, alle diese Ausgaben hätte ich jetzt gern, jene sieben, acht, neun Schübe, die nacheinander erschienen, wunderbare Erfindungen von Nachrichten-Improvisationskünstlern. Kein Kabarettist bringt dir, was solche Glatzenfriseure leisten! Vom fünften Schub an stand dann fest, daß der Präsident tot war. Das erste verwackelte Funkbild zeigte Jackie, die panisch auf den Kofferraum des Cadillac geklettert war, um sich zu schützen oder um zu fliehen. Die Redakteure in der Schalte quasselten aufgeregt durcheinander, Layouter und Techniker wuselten, aus dem Bildfunk lief eine Doppelzeile: »Kennedy ermordet«, zehn Zentimeter hoch, die Buchstaben über volle Blattbreite.

Wieder kam Boenischs Stimme vom Balken: »Wartet mal eine Sekunde, nicht ›ermordet‹, ›erschossen‹ läuft besser!« Die kürzestmögliche Definition der Doppeldeutigkeit: ›erschossen‹ läuft typographisch und auch im Vertrieb besser als ›ermordet‹. Anstatt also meine ›Kiepe‹ zu umbrechen, sah ich dem Werden einer Sensationsnachricht zu. Erst um Mitternacht stand ich mit meinem Metteur wieder vor den literarischen Spalten. Es war fast unwirklich, jetzt die unterschiedlich positiven Ansichten von Rudolf Augstein, Günter Blöcker, Rudolf Walter Leonhardt und Marcel Reich-Ranicki über die ›Ansichten eines Clowns‹ zu umbrechen sowie den Text zu einem Essay von Dieter Wellershoff mit dem Titel ›Der Gleichgültige‹. Aber so sind wir eben, wir somnambulen Arbeiter am Sinn: nicht unbedingt gleichgültig, aber immer professionell. Meiner druckfrischen ›Kiepe‹, die ich zusammen mit der ›Bild‹-Zeitung und dem ›Kölner Stadtanzeiger‹ nach getaner Arbeit morgens bei dem Italiener auf der Hohen Straße durchblätterte, sah man das Attentat von Dallas nicht an.

(BK / JS)

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kommentare

  • Eine atmosphärisch dichte Schilderung über den Tag, an dem die Nachricht über das Attentat von Dallas und wenig später der Zapruder-Film über die Ticker gingen – in Abwandlung eines anderen Buches von Böll bei KiWi könnte man auch sagen: BILD KÖLN BOENISCH.

    Viele Grüße von
    Rüdiger Grothues
    (Open NIne Pub)

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