vonSchröder & Kalender 07.06.2009

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
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Christiane Ensslin, Konfirmation März 1954
(aus ›Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‹)

Wenn dieses Blog erscheint, sitzen wir im Zug nach Köln, um Christiane zum Geburtstag zu gratulieren. Zum ersten Mal habe ich (JS) von ihr gehört, als sie 1977 für Franz Greno die Korrektur der Druckfahnen von Bernward Vespers ›Reise‹ las, die Greno für MÄRZ herstellte. Etwa zur selben Zeit war Christiane Mitgründerin der EMMA, auf dem ersten Titelblatt schreiten vier Frauen mit entschlossenen Mienen vorwärts:

Christiane Ensslin, Alice Schwarzer, Angelika Wittlich, Sabine Schruff
v.l.n.r.: Christiane Ensslin, Alice Schwarzer, Angelika Wittlich und Sabine Schruff

Heute hört sich das auf der EMMA-Website anders an: »Alice Schwarzer ist Herausgeberin und Gründerin der EMMA.« Kein Wort davon, daß die Zeitschrift ursprünglich ein Kollektivunternehmen war. Drei Jahre nach der Gründung gehörte dann Christiane Ensslin zu den 32 ehemaligen Mitarbeiterinnen der EMMA, die Alice Schwarzer »Respektlosigkeit gegenüber der Arbeit ihrer Kolleginnen, Selbstherrlichkeit und Dogmatismus vorwarfen«.

Margarethe von Trottas Film ›Die bleierne Zeit‹ zeichnet das Leben der beiden Ensslin-Schwestern nach. Juliane (Christiane) ist aufmüpfig, Marianne (Gudrun) anfangs eher still und angepaßt. Später läuft die Entwicklung dann diametral. Christiane verläßt das Elternhaus, so bald sie kann, macht eine Lehre als Vermessungstechnikerin, geht von Stuttgart nach Hannover und Goslar – »um Deutsch zu lernen«, sagte sie neulich am Telefon.

v.l.n.r.: Christiane und Gudrun Ensslin 1959 auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof (aus ›Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‹, Foto: Wolf-Dieter Forster)

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Gudrun, die Musterstudentin lernt in Tübingen Bernward Vesper kennen, verläßt ihn in Berlin für Andreas Baader, ihr Weg in die RAF beginnt bis zu ihrem Tod in Stammheim. Während ihrer Haftzeit unterstützt Christiane solidarisch ihre Schwester, davon künden Gudrun Ensslins Briefe an die Schwester und den Bruder Gottfried. 2005 erschien im Konkret Literatur Verlag der Briefwechsel von Gudrun Ensslin mit  ihrer Schwester Christiane und ihrem Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. Alles über das lesenwerte Buch ›Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‹ findet man hier.

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Im Vorwort schreiben die beiden Herausgeber: »Die Frankfurter Kaufhausbrandstifter fallen aufgrund ihrer Verurteilung zu hohen Haftstrafen nicht unter die von der sozial-liberalen Regierung verkündeten Amnestie, die vielen ’68ern die Strafe für kleinere Demonstrationsvergehen erläßt und sie damit für den Reformismus zurückgewinnen will und kann. Daß Andreas Baader und Gudrun Ensslin hier außen vor bleiben, muß für sie ein Schlüsselerlebnis gewesen sein. Sie haben diese Ächtung offensiv für sich als Ritterschlag gedeutet, weil sie überzeugt waren, daß sie durch ihre Militanz die Sollbruchstelle des Systems gefunden hatten, die antiautoritäre Revolte von revolutionärem Kampf trennt.
Bei aller berechtigten und notwendigen Kritik an der RAF, die scheitern mußte, weil sie Militanz zum falschen Zeitpunkt einsetzte, sollten moralische Urteile doch den historischen Kontext nicht unberücksichtigt lassen: Anfang der 70er Jahre herrschten in Spanien und Portugal Diktatoren, in Griechenland wütet eine faschistische Militärjunta, in Vietnam eskaliert der mörderische Krieg der USA und 1973 wird in Chile mit Unterstützung der USA eine demokratisch gewählte Linksregierung liquidiert. Die BRD ist integraler Bestandteil dieses imperialistischen Gesamtzusammenhangs, und so wird die Wut und der Haß derer verständlich, die dagegen eine antiimperialistische Front aufbauen wollten.« (Christiane Ensslin und Gottfried Ensslin, Januar 2005)

Christiane ging einen anderen Weg als Gudrun, sie engagierte sich für die Frauenemanzipation, arbeitete zehn Jahre bei Franz Greno als Korrektorin, Lektorin und Herausgeberin (Das Buch zum Film: Rosa Luxemburg von Margarethe von Trotta), schrieb 1987 den Aufsatz ›Alle Kreter lügen‹ für die Anthologie ›Der blinde Fleck‹. Zu dieser Zeit lernte sie ihren Lebensgefährten, den Sozialwissenschaftler Klaus Jünschke kennen, der als ehemaliges RAF-Mitglied damals noch seine Haft verbüßte und ebenfalls einen Beitrag im ›Blinden Fleck‹ schrieb. Klaus Jünschke wurde bald darauf nach sechzehnjähriger Haft begnadigt.

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Nach der Pleite des Greno Verlags arbeitete Christiane im Verband der Filmarbeiterinnen und danach, von 1992 bis 2003, als Archivarin im Hamburger Institut für Sozialforschung. Während dieser Zeit engagiert sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin, der Journalistin Gita Ekberg in der Gefangenenarbeit von Santa Fu. 1993 erschien ihr ›Aktionshandbuch gegen Rassismus‹, und Christiane beförderte Hubertus Beckers Buch ›Die Niederlage der Gefängnisse‹.


v.l.n.r.: Jörg Hauenstein, Klaus Jünschke und  Christiane Ensslin. Foto: meaning media

Fast vierzig Jahre lang kümmerte sich Christiane um die Gefangenen: Sie ist Initiatorin des ›Komitees gegen Isolationshaft an politischen Gefangenen‹. Nachdem sie in Rente gegangen war, setzte sie die Gefangenenarbeit in Köln zusammen mit Klaus Jünschke fort und gründete den Verein ›Kölner Appell gegen Rassismus‹.

Ein Jahr lang sprach Klaus Jünschke mit zwanzig jugendlichen Strafgefangenen mit Migrationshintergrund in der Justizvollzugsanstalt Köln. Das Projekt des ›Kölner Appell gegen Rassismus‹ lief unter dem Titel ›Erzählwerkstatt‹.

Christiane Ensslin schrieb die Tonbänder ab und traf aus tausend Seiten eine Auswahl. Jörg Hauenstein wollte zunächst nur Fotos vom Innern der Haftanstalt machen. Als der Fotograf den Jugendlichen auf dem Laptop die Bilder zeigte, erklärten sie, daß sie auch für das Buch fotografiert werden wollten.

Wir haben  ›POP Shop‹ bereits in unserem tazblog vorgestellt:

am 14. September 2007 und am 18. September 2007

Im Juni 2009 wurde dem Projekt ›Körnerstrasse 77‹ vom Bündnis für Demokratie und Toleranz ein Preis verliehen. Vorher hatte der WDR den ›Kölner Appell gegen Rassismus‹ bereits mit seinem Kinderrechte-Preis ausgezeichnet.
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Was uns an Christiane immer wieder erstaunt, ist ihr Humor. In Abwandlung von Camus’ letzten Sätzen im ›Mythos von Sisyphos‹ sagen wir deshalb: »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Christiane als einen fröhlichen und unbestechlichen Menschen vorstellen.«
Wir gratulieren herzlichst
Barbara und Jörg

(CE / GE / BK / JS)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2009/06/07/der_kampf_gegen_gipfel_christiane_ensslin_wird_siebzig/

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kommentare

  • WIE DAS LEBEN SO SPIELT!
    Die beiden Polizisten, die Rosa Luxemburg in Margarete von Trottas gleichnamigem Film aus dem Bett heraus verhaften, sind Edgar Domin (Baß von MDK) und ebda. Volker Hauptvogel (voc. von MDK). Fiel mir grade auf!
    Und die Filmarbeiten waren sehr schön! Man hatte, für die Filmerei nicht unbedingt üblich, mit unglaublich guten, ich sage nicht: Netten, Menschen zu tun.
    Wie das Leben so spielt!
    Gruß Volker und Edgar!

  • Hallo, allerseits! Ja, Humor ist schön!
    Hier ein Songtext von 1979
    Propaganda durch die Tat
    der Berliner Punk-Band
    Mekanik Destrüktiw Komandöh
    und herzlichste Glückwunsche zum Geburtstag!

    Erstmals gespielt vor der Frauenhaftanstalt Lehrter Straße in Berlin-Moabit.

    Du sagst immer wieder
    das Du mich gerne hast
    und ich bin so frei
    und glaub Dir das

    Denn was Du tust
    und was Du sagst
    das ist Propaganda
    Propaganda durch die Tat!

    Dann sagst Du
    das ich dich einenge
    und die Liebe
    in starre Formen zwänge

    dann seh ich dich
    lange Wochen nicht
    du kehrst zurück
    sagst mir
    Deine Freiheit liebend ins Gesicht

    Das Du mich gerne hast
    aber nicht
    heut Abend
    und auch nicht heute Nacht!

    Was Du tust
    und was Du machst
    ist Propaganda
    Propagande durch die Tat!

    Das ist Verrat
    an jemand dem man sagt
    das Frau ihn gerne hat
    Immerhin: Propaganda durch die Tat!

    Und frei – nach Mao-
    sage ich
    zwischen mir und dem Feind
    einen klaren Trennungsstrich!

    Und ich meine Dich!

    Das ist selbstverständlich nicht Persönlich gemeint!
    (C) Volker Hauptvogel, Family of ÜZ, Berlin, MDK 1979
    Nochmals, alles GUTE!

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