vonSchröder & Kalender 20.11.2011

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in schwach in nördlicher Richtung.
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Zur Wirkungsgeschichte des Freitodes von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist bringen wir heute eine Passage aus einer ›Schröder erzählt‹-Folge:


Der Wegweiser
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Warum beschäftigte sich 1998 plötzlich eine Bibliothekarin des Deutschen Literaturarchivs Marbach mit unserem Vorlass? Normalerweise sind doch Handschriftenabteilung und Bibliothek strikt getrennt. Weshalb wollte also Brigitte Raitz das ›Reise‹-Manuskripts in ihren feministischen Bestand aufnehmen? Diese Logik blieb uns verschlossen, bis wir die Lösung fanden: Brigitte Raitz wollte das ›Reise‹-Manuskript der Übergriff-Literatur zuschlagen. Denn um eine solche handelt es sich ihrer Meinung nach wohl bei den Liebesbriefen von Bernward Vesper an Ruth Ensslin.

Wer Vespers Romanessay gelesen hat, wird sich erinnern, dass auf den ersten Seiten der ›Reise‹ der Ich-Erzähler Bernward zu seinem Reisegefährten Burton sagt: »Do you know, I have lost my girl.« Die meisten Leser gehen vermutlich davon aus, dass er damit Gudrun Ensslin meinte. Das ist aber nicht so, vielmehr hatte Vesper, nachdem Gudrun ihn für Andreas Baader verlassen hatte, sich für sie nur noch als Mutter ihres gemeinsamen Sohnes Felix interessiert und als Genossin. Das zeigt seine flammende Rede beim Frankfurter Brandstifter-Prozess. Tatsächlich hatte Bernward sich inzwischen auf Ruth fixiert, die jüngste der Ensslin-Schwestern. Sie war zur Zeit der Niederschrift der ›Reise‹ gerade vierzehn Jahre alt.

Wer daran Anstoß nimmt, den erinnern wir an die lange Reihe literarischer Mädchenidole von Petrarcas Laura, über Novalis’ Sophie von Kühn, die mit fünfzehn Jahren starb, von Goethes ›Heideröslein‹, der Pfarrerstochter Friederike Brion aus Sesenheim bis zu Nabokovs ›Lolita‹. Bernward Vesper, ein homme de lettre durch und durch, hatte als Student in Tübingen einen Essay über Novalis geschrieben und plante eine Dissertation über das Thema. Er wußte also, dass der Freiherr von Hardenberg sich mit Sophie an ihrem dreizehnten Geburtstag verlobt hatte. Bernwards Liebe zur minderjährigen Ruth Ensslin war deshalb keine »wahnhafte Übertragung von Gudrun auf Ruth« wie Gerd Koenen es in seinem Buch ›Vesper Ensslin Baader‹ darstellt, sondern gehört ins weite Feld von Anziehung, Zärtlichkeit und Verwirrung und ist – wenn überhaupt – eine literarische Übertragung auf Novalis

Ruth Ensslin war zwölf und hatte angefangen Freud zu lesen, in einem Alter, in dem andere Teenager ›Emil und die Detektive‹ verschlangen. Als sie 1967 zu Besuch in Berlin war, erlebte sie die Anfänge der Trennung ihrer Schwester Gudrun von Bernward. Über diese Beziehungskonvulsionen schrieb Bernward zwei Jahre später an Ruth: »Erinnerst Du Dich an das Gespräch mit Andreas, Gudrun, Dir und mir am runden Tisch in der ›Dicken Wirtin‹, als sich die Parteien Gudrun-Andreas und Du-ich herstellten? Dann, nachdem WIR nächtelang geredet hatten … und dann eines Morgens-Mittags Du zu uns ans Bett kamst und ich dich festhielt und ins Bett zog …, ging Gudrun zu Andreas (und die Geschichte war ja so, dass Andreas von Gudrun erst gar nichts wissen wollte usw. Sie aber merkte, dass sie wegmusste). Es war vielleicht ganz gut, dass wir damals nicht miteinander geschlafen haben, weil das, was nachher und jetzt geschah, nämlich die psychische Aufarbeitung, das Aufbrechen bisher versteckter Komplexe usw. dann vielleicht unmöglich gewesen wäre. … Gudrun kann, auch für Dich, untergehen, zersetzt werden … seit sie entlassen ist, habe ich sie endgültig vergessen. Ich bin froh darüber, und sehr glücklich, dass es dich gibt, Carissima … Gestern Nacht waren wir am Kleistgrab …«

Tatsächlich sind Bernwards Briefe an Ruth nicht weniger outriert als andere Liebesbriefe. Und wenn Gerd Koenen sich verächtlich über Bernwards Anspielung auf Kleist auslässt: »Darum ging es in letzter Instanz: Herr Kleist suchte sein Fräulein Vogel«, dann sollte er besser Heinrich von Kleists Brief an Henriette Vogel einen Monat vor ihrem gemeinsamen Freitod am kleinen Wannsee lesen, dann bliebe ihm nämlich die Häme im Halse stecken. Hier ein kurzes Zitat: »Ach, Du bist mein zweites besseres Ich, meine Tugenden, meine Verdienste, meine Hoffnung, die Vergebung meiner Sünden, meine Zukunft und Seligkeit, o Himmelstöchterchen, mein Gotteskind, meine Fürsprecherin, mein Schutzengel, mein Cherubim und Seraph, wie lieb ich Dich!«


An dieser Stelle am Kleinen Wannsee nahmen sich Henriette Vogel und Heinrich von Kleist das Leben
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Um also diesen Selbstmord- und Übergriff-Spekulationen die Spitze abzubrechen: Bernward Vesper erschoss nicht seine Geliebte, sondern nahm sich selbst zwei Jahre später das Leben. Sein Romanessay beginnt mit der Erinnerung an diese Reise nach Dubrovnik, wohin er Ruth gefolgt war, die dort mit ihren Eltern Urlaub machte. Vorher hatte er ihren Vater Helmut Ensslin arrogant abgebürstet, der ihn telefonisch gebeten hatte, »die Hand von meiner minderjährigen Tochter zu nehmen.« Bernward schrieb ihm: »Menschen sind keine Maschinen, die man ab- und ausschalten kann, sie haben Bedürfnisse, die sich von Deinen unterscheiden und die Du nicht mit Gewalt und Einschüchterung unterdrücken kannst.« Dann fuhr er nach Dubrovnik, traf sich mit Ruth und versuchte mit ihr zu schlafen. Sie wollte nicht, vielleicht war ihr Bernward auch zu durchgedreht. Wie auch immer, aus der ›Reise‹ wissen wir, dass Vesper damals panisch aus Dubrovnik floh. An der Straße nach Rijeka las er den Hitchhiker Burton aus New York auf, dem er von seiner verlorenen Liebe erzählte. Burton kaufte ein Eis und einen Kaffee und sagte trocken: »Vierzehn ist zu jung. Sie haben eine andere Welt.«

Von dieser anderen Welt handelt das Marbacher Deponat der Ruth Ensslin-Frey, die inzwischen Mitte Fünfzig ist und als Psychotherapeutin arbeitet. Sie hat die Briefe von Bernward Vesper nach Marbach gegeben und Gerd Koenen erlaubt, daraus zu zitieren. Jedenfalls war es ein abwegiger Versuch der feministisch-fixieren Bibliothekarin, diesem kleinen Teil der Vesper-Welt das große Universum der ›Reise‹ zuzuschlagen; und damit das schlechthin gültige Buch über Bewusstsein und Entwicklung der deutschen Nachkriegsjugend, den Liebesbriefen an ein junges Mädchen unterzuordnen.

(BK / JS)

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