vonSchröder & Kalender 06.05.2019

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert munter in östlicher Richtung.
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Gestern hörten wir auf Bayern 2: »Trümmerszenen einer westdeutschen Nachkriegskindheit«, ein Beitrag von Judith Heitkamp. Zu Beginn führt Rudolf von Bitter ein Gespräch mit Jörg Schröder. Jörgs heisere Stimme ist der gerade überstandenen Erkältung geschuldet.

Danach liest Franz Pätzold Szenen aus ›Siegfried‹, bisher traf kein Sprecher den lakonischen und undogmatischen Ton des Textes so gut wie der junge Burgschauspieler. Auch die Auswahl der Texte ist besonders hervorzuheben,  dies möchten wir den Freunden nicht vorenthalten. Also hört mal rein!

 

Rudolf von Bitter im Gespräch mit Jörg Schröder.
›Siegfried‹ gelesen von Franz Pätzold.
Regie: Irene Schuck. Redaktion und Moderation: Judith Heitkamp.

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Für alle, die gern lesen, haben wir hier noch einen Text ausgesucht:

Meine Mutter war in Berlin eingesetzt, im Bahnhof Friedrichstraße, auf der Rote-Kreuz-Wache. Mein Vater kam nach Genschmar auf Besuch. Das Schuljahr hatte schon angefangen, ich war fünfeinhalb und kam zum erstenmal in die Schule. Ochs hieß die Lehrerin, ein Fräulein mit einem Haarknoten und einer Runenbrosche auf der Brust. Erster Tag: Ich kam als letzter. Auf dem Kopf hatte ich eine Skimütze. Fräulein Ochs sagte: »Na? Jörg, was macht man denn, wenn man ins Zimmer kommt? – Geh mal wieder raus, und komm wieder rein, und mach das, was man macht, wenn man ins Zimmer kommt.«
Ich überlegte auf dem Flur, bin wieder reingegangen, habe die Mütze abgenommen und gesagt: »Guten Morgen.« – »Nein!« hat das Fräulein Ochs milde abgewehrt, »geh mal wieder raus, du müßtest das eigentlich wissen, was man macht, du kommst doch aus Berlin!« Ich wieder raus, schon bedient von der ganzen Schule, wußte nicht, was die Kuh wollte. Nach einer Weile kam Fräulein Ochs auf den Flur: »Jörg! Man sagt Heil Hitler!« Ich stand belämmert da.

1945
Man hörte schon das Geschützgrollen, mich störte es nicht. »Hoffentlich holt dich bald deine Mutter«, sagten die Bauersleute, nichts anderes wollte ich. Deshalb war ich glücklich über diesen Kanonendonner. »Die üben da«, hieß es immer, aber natürlich war es die Front. Die Felder lagen wie eh und je da, das Dorf auch.
Mit einem der letzten panischen Landserzüge kam meine Mutter. Von Berlin bis Küstrin hatte sie vier Tage und Nächte gebraucht, sie war auf zig Strecken hin und her gefahren.

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Vor dem Betonbunker sah ich sie, keine Russen, sondern den Volkssturm, Greise mit Panzerfäusten, ausgemergelte graue Opas. Das Deutschland der letzten Stunde schlurfte vorbei.
Ich erkundete den Bunker. Eine Stunde, bevor der Bunker geschlossen wurde, kam meine Mutter vom Bahnhof Friedrichstraße herüber, irgendwie hatte sie sich durchgeschlagen, quer durch das zerschossene Berlin. Unterwegs sei sie mindestens zwanzigmal vom Fahrrad gefallen, erzählte Edith, vom Druck der Detonationen. Meine Mutter quartierte mich zu sich in die Rotkreuzkabine um.
Dann ging der Horror los. Meine Mutter hat mir Baldrian gegeben. Reihenweise kamen Frauen mit ihren Töchtern in die Rotkreuzkabine. Aus Angst vor den Russen wollten sie sich und die Töchter umbringen, aber als sie ihr Blut sahen, bekamen sie Angst vor dem Sterben und wollten verbunden werden. Ich hatte noch nie soviel Blut gesehen. Am Morgen nach dieser Baldriannacht kamen die Russen.
In Niederschönhausen etablierte sich bereits die Russische Kommandantur. Auf unserem Bunker wurde die weiße Fahne gehißt, dann wurde der Bunker aufgemacht. Wie ein Lauffeuer ging die Meldung durch: »Alle müssen raus.« Im Bunker waren Parteileute gewesen, die hatten eine Delegation gebildet, um die Russen zu empfangen. Einer von denen hatte die Nerven verloren und den ersten Russen, den er vor sich sah, über den Haufen geschossen. Die Parteileute wurden niedergemacht. Nach vier Tage lagen die Leichen immer noch da. Wir wurden aus dem Bunker getrieben. Ich heulte, aber meine Mutter beruhigte mich: »Heul nicht, Junge, der Krieg ist aus.« Dann riss sie sich ihre Rotkreuzlitzen vom Kostüm.
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Die Siegfried-Neuausgabe enthält: Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus (366 Seiten) sowie ›Das ganze Leben · Jörg Schröder Vita‹ aufgezeichnet von Barbara Kalender (173 Seiten mit zahlreichen Abbildungen). Das sind insgesamt 544 Seiten, erschienen ist das Buch im Frankfurter Verlag Schöffling & Co.

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JS / BK

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