vonDetlef Berentzen 20.05.2015

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Ich fühle mich in Eisenbahnen geborgen, und wohl auch deshalb oder deshalb fällt mir und allen anderen als Erstes nach dem Einsteigen Schlaf ein: sich hinsetzen, sich in die Ecke kuscheln und schlafen – schlafen bis Wladiwostok zum Beispiel. (Peter Bichsel)

Gut, sie streiken. Immer wieder. Und morgen auch. Aber es gab eine Zeit, da streikten sie gar nicht, und ich wollte Lokführer sein, mit Heizer und Schaufel vorne im Stand, rußverschmiert, ein loderndes Feuer unterm Kessel, den Kohletender hinter uns, viele Waggons außerdem, immer wieder Läuten und Pfeifen, und die Kinder winken uns zu und auch sie wollen gerne Lokführer sein. Das war tatsächlich mal was: Lokführer sein! und den Kopf aus dem Führerstand in den Wind halten, die Signale beachten, den Schrankenwärter vor seinem Häuschen grüßen und am nächsten Bahnhof aussteigen, sich neben der Lok und ihrer mächtigen Mechanik postieren, die Daumen hinter den Hosenträgern und lässig eine Overstolz im rußigen Gesicht.

Irgendwann wollte ich dann kein Lokführer mehr sein und auch nicht länger über das Bahnfahren schreiben, doch dann las ich Peter Bichsel (s.Foto), diesen Schweizer, der nicht zuletzt in der Bahn schreibend zu Hause ist, ja, bei Bahnfahrten oft genug Geschichten für seine Kolumnen findet und obwohl er es, 80-jährig, mit dem Schreiben jetzt erst einmal lassen will (behauptete er zumindest neulich im Literarischen Colloquium), frage ich mich, wie so ein Bichsel, wenn er es sich es dann doch mal anders überlegt, schreiben soll, wenn die Züge nicht mehr fahren? Welch ein Verlust, ohne seine Sätze leben zu müssen!

Von all dem ahnen die narzisstischen Spitzentänzer von Bahn und Lokführern nichts: Kaum ein Kind träumt mehr davon Lokführer zu sein. Und die Waggons, die doch auch Schreib- und Lesestuben sind, werden auf das Abstellgleis geschoben – eine traumlose Zeit in öden Tarifzonen droht. Sätze, wie die folgenden von Bichsel, haben nur noch wenig Heimat. Doch es gibt diese Sätze. Und sie bleiben: “In Norddeutschland bevorzuge ich die langsamen Züge, die gemächlich von einer Station zur anderen ziehen und die ruhige Landschaft in Ruhe lassen. Die fast immer gleiche Landschaft erträgt die Schnelligkeit nicht.” Später ist er dann mit dem ICE zu einer Lesung nach Kiel gefahren und hat dies oder auch das geschrieben. Da fuhren die Züge noch. Aber die Lokführer waren bereits unsichtbar.

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