vonMesut Bayraktar 20.05.2018

Stil-Bruch

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Lilja Rupprecht inszeniert im Staatstheater Stuttgart Franz Kafkas Roman „Amerika“ als Geschichte des Gebrochen-Werdens durch den Puls stählerner Verhältnisse

Die Aufführung von Franz Kafkas Roman „Amerika“ durch die Regie von Lilja Rupprecht beginnt mit einem Fötus, einer Geburt, einem Kampf, nämlich dem des Karl Roßmanns, der dann die Fruchtblase aufreißt und blutverschmiert aus ihr heraustritt. Das Schiff hat soeben im Hafen New Yorks angelegt. Auf einer bühnenbedeckten Leinwand projiziert eine Kameralinse die ersten Begegnungen Karl Roßmanns mit übergroßen, finsteren und bizarren Gesichtern in Nahaufnahmen.
Roßmann stößt zunächst auf den Heizer, dem er bekundet, dass er sich im Schiff auf der Suche nach seinem Koffer verlaufen hat. Statt Hilfe zu erhalten, wird er verlacht und lässt sich in den Sog des Heizers heranziehen, zu dessen naiven Anwalt er sich aufschwingt, dabei gleichsam seine eigene Not vergessend. Dann taucht aus dem Dunkeln der Kapitän auf, den er um eine Unterredung bittet, worin er ihm zu erklären versucht, dass der Heizer einen besseren Posten als den, den er im Heizraum innehat, verdient. Auch hier wird er abgewatscht. Dem Neuankömmling wird klargemacht, dass er hier, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, keine Möglichkeiten hat. Dann schießt der angesehene, patronenhafte, mächtige Onkel von Karl Roßmann aus dem Schatten hervor, brillant gespielt von Rahel Ohm, die auch in weiteren Rollen, die sie einnehmen wird, glänzt. Roßmann, den seine Eltern aufgrund einer Affäre mit einem Hausmädchen von Europa nach Amerika wie eine unnütze Last verschifft haben, wird vom Onkel zurechtgestutzt. Wider Roßmanns Willen schildert der Onkel den Grund, warum Roßmann nach Amerika kam. Trotz seines Protestes fährt der Onkel fort, bis die Geschichte im schrecklichen Hohngelächter aller über Roßmann schließt.
Dies alles geschieht im Schatten der berüchtigten Freiheitsstatue, die nach Kafkas Vorstellung nicht eine Fackel, sondern ein Schwert in den Himmel streckt. Der amerikanische Albtraum, den Kafka in seinem Romanfragment prophetisch vorwegnahm, kann beginnen.

Puls der Verhältnisse

Entgegen des einmütigen Bashings von Nachtkritik.de bis hin zur Stuttgarter Zeitung ist die Inszenierung von Rupprecht durchaus gelungen. Zwar ist es nahezu unmöglich, Kafkas Romane und Erzählungen auf die Bühne zu bringen, eben weil sie sich aus Umschichtungsprozessen von ungeheurer Komplexität zusammensetzen. Nichtsdestotrotz ist der Aufführung anzusehen, dass sie ernsthaft das Wesen des Romans zum zentralen Thema zu dramatisieren bemüht war. Diese Bemühung ist eine Anerkennung wert.
Die Aufführung schafft es nämlich aufzuzeigen, dass die Opazität kapitalistischer Klassenmacht das Individuum in einem stummen Labyrinth aus Konkurrenz, Selbstsucht, Überlebenswillen, Not, Autorität, Raubtrieb, Lohnarbeit, Kapital, Gewalt und Erpressung zum Statisten seines eigenen Lebens entwürdigt. Damit hat Kafkas „Amerika“, nebenbei bemerkt, weit größere Tiefe und schärferen Realismus als dystopisch-phantastische Romane wie „1984“ von George Orwell oder „Brave New World“ von Aldous Huxley. Trotz aller aufrichtigen Anstrengungen und Anpassungen ist Karl Roßmann nirgendwo gut genug für die Ansprüche, die man an ihm setzt. Er bleibt überall ein Idiot, nicht weil er ein Idiot ist, sondern weil die Macht, die um ihn fließt, um ihn zu durchdringen, Idiotie von ihm verlangt. Denn die Ausbeutung eines Idioten vollzieht sich reibungsloser. Diese Linie zeichnet die Aufführung nach. Rupprecht erzählt uns auf der Bühne des Stuttgarter Staatstheaters die Geschichte Karl Roßmanns als Geschichte des Gebrochen-Werdens durch Verhältnisse, hinter denen nicht Gewalt lauert, sondern die selbst Ausdruck sozialer Gewalt sind. Dabei malt sie, wie sie im hauseigenen Magazin >Reihe 5< bekundet, in die Dreidimensionalität hinein, was sie als charakteristisches Merkmal für die Theaterkunst hält. Das ist streitbar, aber malen kann Rupprecht.
Dieses Malen vollzieht sich durch die ausschöpfende Verdichtung technischer Mittel, die sie bis zu einer adäquaten Grenze des noch nicht Überbordenden treibt; beispielsweise mit der mechanisch-stampfenden Akustik, die zu Beginn an einen penetrierten und krankhaft-gehetzten Herzschlag, an den Herzschlag einer mechanischen Bestie erinnert und später das uniformierende „Lob des stählernen Rhythmus“ von Adorno verkündet, worin das Objekt gewordene Subjekt – Karl Roßmann – selbst gestählt oder weggeworfen und gebrochen wird.
Auch die hintereinander aufgereihten Lamettavorhänge sind das Malen im dreidimensionalen Raum. Neben dem Verweis auf die Glanz-Glamour Oberfläche des amerikanischen Kapitalismus spiegeln sie insbesondere die dahinter liegende Undurchdringlichkeit und fluide Zähigkeit sozialer Klassenverhältnisse wider, weil die Schauspieler zwischen und hinter diesen Vorhängen verborgen, gefangen, verstrickt werden. Dem Publikum wird gezeigt, dass die glänzend herabfallenden Lamettastreifen zugleich Gefängnisgitter sind, die die Beziehungen und Bewegungen im Verborgenen versperren, leiten und präformieren. In der praktischen Welt sind diese Lamettavorhänge Werbeplakate, Straßen, Architektur bis hin zu Vertrags- und Arbeitsverhältnissen. Nur sind diese Lamettavorhänge derart selbstverständlich geworden, dass man sie schon gar nicht mehr versteht, nicht verstehen will, nicht sehen kann. Rupprecht hebt sie daher hervor. Das wache Auge des Publikums dürstet danach den Ursachenzusammenhang und Lösungsweg Roßmanns zu verfolgen und soll sich daran ärgern, dass es sie nicht plastisch – d.h. ohne Lamettastreifen, die die Sicht erschweren – aufgeführt sieht. Dadurch wird das Auge wacher für die Mikrophysik der Macht geschult. Diese bewusste Verdunklung der Vorgänge auf der Theaterbühne sollen das Bewusstsein für die repressiven Vorgänge auf der Weltbühne aufhellen. Der Ärger des Publikums verwandelt sich in Hellsicht. Diese Herausforderung hat die Inszenierung mit Anleihen kafkaesker Darstellungen gemeistert.

Die Überzählig-Gemachten

In den oben erwähnten Kritiken wird, als hätte man sich abgesprochen, vielfach nach altkluger Art eines Kritikers lamentiert, dass Rupprecht durch die Verwendung technischer Mittel nicht „Menschen aus Fleisch und Blut“ auf die Bühne gebracht habe. Aber ist es denn Aufgabe des Theaters „Menschen aus Fleisch und Blut“ auf die Bühne zu bringen, wenn Menschen aus Fleisch und Blut im Alltag zu sehen sind? Soll Theater lediglich die Wirklichkeit verdoppeln, um im ästhetischen Schein das faktische Sein zu einer ausweglosen Ewigkeit zu sanktionieren? Soll es in der Verdoppelung das Verdoppelte zementieren, d.h. alternativlos machen, Fluchtlinien zerschneiden, die als Möglichkeitsräume in die Wirklichkeit münden könnten? Nein, das soll es nicht. Es muss bewusst artistisch zugehen, um im Rekurs auf die praktische Welt ihren Konstruktionscharakter zu enthüllen, den sie außerhalb des Theaters verbirgt, also aufzuzeigen, dass die praktische Welt nicht naturgegeben ist oder eine Ewigkeitsgarantie besitzt, sondern vielmehr selbst geschichtliches Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Ob diesem Anspruch Rupprechts Inszenierung von dem Roman, den sie selbst nah an Kafkas Text in eine Bühnenfassung gebracht hat, gerecht geworden ist, sei dahingestellt. Dass aber die Inszenierung diese Richtung einschlug, ist zweifelsfrei. Wenn aber mit der Formel „Menschen aus Fleisch und Blut“ die Körperlichkeit gemeint sein soll, so weiß ich nicht, was die anderen Kritiker in der Aufführung gesehen haben. Denn ich habe unmittelbar Körper, nämlich die Körper, Gesten, Stimmen und Mimiken der Schauspieler wahrgenommen, ganz besonders von Ferdinand Lehmann, der Karl Roßmann in herausragender Weise zwischen Naivität, Gerechtigkeitsglaube, Anpassung, Gehorsam und Gutgläubigkeit durch alle psychologischen Schwierigkeiten hindurch zu demonstrieren wusste.
In Erinnerung bleiben vor allem die Bilder, nachdem er wörtlich von dem stummen Zwang der Umstände komplett ausgezogen wurde und fast die Hälfte der Aufführung nackt auf der Bühne stand. Der amerikanische Albtraum hat ihn auf seine Tierheit, auf sein blankes Nackt-Sein zurückgeworfen und mit Kot, Dreck und Schmutz besudelt, bis dieses flüssige Exkrement der neuen Welt im Laufe des Abends mehr und mehr auf seinem Körper zu Zement wurde. Sowie es trocknete, wurde es grau wie Beton. Das unentrinnbare Echo der Macht hat ihn umschlossen und versteinert. Roßmanns Schicksal ist besiegelt. Die Aufführung endet wie im Roman mit dem Theater in Oklahama, wo man vielleicht zum letzten Mal eine Verwendung für den Überzähligen hat, der an die industrielle Reservearmee erinnert, die Karl Marx im „Kapital“ wie folgt beschreibt: „Mit der (…) produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung [durch Konkurrenz, Maschinerie etc.] in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondere historische Produktionsweise ihre besonderen, historisch gültigen Populationsgesetze hat. Ein abstraktes Populationsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift. (…) Sie[=die Arbeiter] sind jetzt alle “freigesetzt”[=arbeitslos], und jedes neue funktionslustige Kapital kann über sie verfügen. Ob es sie oder andre attrahiert[=an sich zieht], die Wirkung auf die allgemeine Arbeitsnachfrage wird Null sein, solange dies Kapital gerade hinreicht, um den Markt von ebensoviel Arbeitern zu befreien, als die Maschinen auf ihn geworfen. Beschäftigt es eine geringere Zahl, so wächst die Menge der Überzähligen.“ Kennzeichnend dafür, dass Roßmann unter die Räder des kapitalistischen Populationsgesetzes kommt, ist die zu Beginn durch seinen Onkel vor dem Schiffskapitän und dem Heizer erzählte Geschichte, warum Roßmann nach Amerika verschifft wurde. Hier pointiert Rahel Ohm gestisch mit einer unvollendeten Handbewegung zur Seite die strukturelle Misere, die Roßmann wie ein Schatten begleitet: Er wurde „beiseitegeschoben“, wie jeder überzählig Gemachte, für den die Verwertungsmaschinerie keine Verwendung hat. Der Tenor des Romans ist auch in der Inszenierung zu hören, man muss nur genau hinhorchen:

Arbeit macht arm, Betrug macht reich.
Tüchtigkeit ist dumm, List ist klug.
Lauterkeit verpflichtet, Lüge befreit.

Kafkas Manifest für das Theater

Kurt Tucholsky hat „Amerika“ auf einen kurzen wie prägnanten Nenner gebracht: „Hier ist der ganz seltene Fall, dass einer das Leben nicht versteht und recht hat.“ Das ist Karl Roßmann, das ist die Leitlinie der Inszenierung, das ist womöglich das Dilemma des Künstlers gemeinhin. Als Künstler wird Karl Roßmann schließlich zum Ende der Aufführung, nach dem stampfenden Herzrhythmusschlägen zwischen pfeifenden Zahnrädern und knackenden Kolben des ökonomischen Unterbaus, der Geist in die gesellschaftlichen und individuellen Sphären einbläst, hingestellt.
Vielleicht ist Roßmann tatsächlich ein Künstler und daher seine Unfähigkeit zurückzuschlagen – das bleibt Kafkas Geheimnis, gleichwohl das Theater im Roman ebenso wie in der Aufführung sein Grab sein wird. Was er aber zu sein versucht, ist offensichtlich sich als Überlebenskünstler durchzuschlagen, ohne dabei nur zu erahnen, dass er tiefer ins Verderben stürzt, je mehr er sich an das hält, was man von ihm verlangt. Als Individuum hat er keine Wahl – er ist ausgeliefert, wie jeder vereinzelte Lohnabhängige. (Diesen Zusammenhang hätte Rupprecht noch klarer herausarbeiten und damit in die Gegenwart tragen können.) Sollte in Roßmann jedoch tatsächlich ein Künstler stecken, so gehört dieser naive, sympathische und doch tragisch-zerbrechliche Mann, der permanent seiner Freiheit hinterher läuft, in der Tat ins Theater. Das hat Rupprecht erkennt. Denn zum Schluss hin ertönt aus Lautsprechern ein Manifest für das Theater, wohinter Kafkas Literatur-Sein-Wollen steckt. Das Theater von Oklahoma ruft nämlich den Beiseitegeschobenen Karl Roßmann und sonst alle Heimatlosen, für die das Theater eine Heimat sein kann, auf seine Bühne. Diesem Manifest schließe ich mich an und möchte die vorliegende Kritik damit abklingen lassen: „Das große Theater … ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! … Verflucht sei, wer uns nicht glaubt!“


*Foto: JU (Staatstheater Stuttgart Schauspiel)

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