vonMesut Bayraktar 07.10.2018

Stil-Bruch

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Das Publikum muss im Theater sehen lernen, wie es im Leben mit ihm bestellt ist – Über Bühnenvorhänge im Theater und über ein Artikelchen in der ZEIT

Zufällig habe ich den ganz unscheinbaren Artikel von Christine Lemke-Matwey in der linksbürgerlichen Wochenzeitung DIE ZEIT vom 20. September (N°39/2018) gelesen, die mehr und mehr konservativ wird, denkt man an die zuletzt für Aufregung gesorgte Titelseite mit „Seenotrettung: Oder soll man es besser lassen?“ Wie dem auch sei, „Der Lappen muss bleiben!“ ist der Titel von Lemke-Matwey Artikelchen auf S. 52 und gemeint ist damit der Bühnenvorhang in Theater und Oper, der vor Beginn der Aufführung den Kult des Hokuspokus um die Bühnenkunst nähren soll. Das klingt wie der Ruf nach dem Betrüger, der seinem lügensüchtigen Publikum zunächst die Innenseite seines Zylinders zeigt, um anschließend, nachdem ein Tuch zwischen seinem Zylinder und dem sich selbst vergessenen Publikum daherflattert, einen Hasen aus dem Zylinder hervorzuzaubern. Offensichtlich will Lemke-Matwey mit ihrem Artikelchen zum Ausdruck bringen, dass sie Betrüger Künstlern vorzieht oder Kunst für sie schlichtweg Betrug unter Einverständnis der Opfer ist, damit sie umso rascher vergessen können, die Opfer der Wirklichkeit zu sein, die sie im Theater nicht zu meistern lernen, sondern missverstehen und akzeptieren sollen. Jeder Betrug beginnt mit einem Taschentrick. Der Taschentrick des Theaters (vom Glanz und Glitzer der erlauchten Eminenz »Oper« vermag ich gar nicht erst zu sprechen) beginnt mit dem Bühnenvorhang. Weg damit!

Theater und Oper ohne Vorhang empfindet Lemke-Matwey aber als „eine traurige, ziemlich geheimnislose Angelegenheit.“ Aber warum denn? „Ohne den Eros des Geheimnisvollen, Verborgenen wäre der Augenblick (…) nicht halb so befreiend und schön.“ Was auch immer die Verfasserin des Artikelchen mit „Eros“ meint – etwa libidinöse Stimulanz im Dunkel des Publikumssaals bei gleichzeitigem Anblick der Darsteller auf der Bühne? – für solche Begierden gibt es andere, professionelle Orte, beispielsweise den Puff oder verborgene, geheimnisvolle Treffen in Swinger Klubs. Diese Orte sind Lemke-Matwey zu raten, wenn sie so sehr über das Verschwinden des Bühnenvorhangs trauert. Dort findet sie vielleicht einen Ersatz für den Verlust dessen, der „so befreiend und schön“ ist: die „schöne“ Illusion, und das Vorspiel eines „befreienden“ Orgasmus.

Schließlich sucht Lemke-Matwey den Vorhang aber auch darum, damit er „die Darsteller und ihr Publikum ganz handfest voreinander in Sicherheit bringt.“ Ist es denn das, was Theater im 21. Jahrhundert sein soll – „ganz handfeste Sicherheit“ zwischen Darsteller und ihr Publikum, „ganz handfeste Sicherheit“ zwischen Betroffenen und Verantwortlichen, „ganz handfeste Sicherheit“ zwischen Geschlagenen und Schlägern, „ganz handfeste Sicherheit“ zwischen Europa und den Folgen der Kriege, die es weltweit führt? So sind die ästhetisierenden Bildungsbürger vom Typ Lemke-Matwey, der leider auch viel zu oft mehrheitlich die Publikumsränge besetzt: Er verlangt „ganz handfeste Sicherheit“ vom Bühnengeschehen angesichts der Folgen der Ausbeutung, die seine Klasse an der arbeitenden Bevölkerung, der Natur und der Welt betreibt. So kristallisiert sich im Ruf nach dem Bühnenvorhang, der eine kleine Chiffre im komplexen Produktionsapparat des Theaters ist, das Eingeständnis der Nicht-Aufklärung ästhetisierender Bildungsbürger. Es ist der Ruf nach dem von Brecht bezeichneten »bürgerlichen Rauschgifthandel«, der an allen Fronten zerschlagen werden sollte.

Von Kaptan Bayraktar

Das Theater zeigt nämlich ein Sein zweiter Potenz. Das bereits Erlebte müsste zu einem Erfahrbaren, zu einem Verstehbaren, zu einem Sichtbaren auf der Bühne rekonstruiert werden. Erfahrbarkeit, Verstehbarkeit und Sichtbarkeit setzt aber Konfrontation statt Sicherheit, Risiko statt Sicherheit, Realismus statt Sicherheit voraus. Will das Theater im Zeitalter technisch reproduzierbarer Kunstwerke einen genuinen Ort in den bestehenden Produktionsverhältnissen behaupten, gleichsam auf sie einwirkend, ohne reinen Ausstellungswert zu verkörpern, muss es jede Sicherheit des Publikums – gerade heute, wo jede Sicherheit in den unteren Klassen wie Zuckerwürfel im Wasser verschwindet – aufheben, auch den Bühnenvorhang. Alles andere wäre Lüge um der Lüge Willen, wie allzu im heutigen Leben und der Kultur verbreitet, wo soziale Wahrheiten in unzähligen Vorhängen verschleiert werden. Das Publikum aber muss im Theater sehen lernen, wie es im Leben mit ihm bestellt ist. Das beste Theaterstück beginnt mit dem Eintritt ins Theater, ganz nahtlos. Dann kann ein Vorhang Requisit sein, aber nicht das Instrument einer Zäsur zwischen Ende der Wirklichkeit und Beginn der Illusion. Im Mythos muss das Theater vielmehr die Mythen der Gesellschaft enthüllen, indem es inoffizieller Mitarbeiter des Logos wird. So entsteht dialektischer Realismus, der geknüpft sein müsste an eine epische Klassendramatik. In diesem Sinn beginnt weder das tägliche Leben mit einem Vorhang, noch ist es „befreiend und schön“ in Vorhängen gefangen zu sein, wie ein Siemens-Mitarbeiter, der nicht weiß, warum er seinen Job verliert, obwohl die Geschäftsleitung Millionenumsätze macht.
Zu behaupten, Vorhänge seien „befreiend und schön“, vermag nur jemand zu sagen, der von der Wirklichkeit nichts wissen will, weil er im Geheimnisvollen und Verborgenen seinen Sieg über die Besiegten sicherstellt. Den Siegern soll man nicht auf die Schliche kommen.

Wenn Lemke-Matwey in einer nostalgischen Bürgerlichkeit, die an den Anfang des 20. Jahrhundert erinnert, schreibt: „Die Geschichten hinterm Sammet, damit lebt der Theatergänger [=wohl eher der Bürgerliche!], seit das Theater aus den Kirchen hinaus auf die Marktplätze trat“, dann fügen wir hinzu, dass das Theater hinaus aus den Marktplätzen auf die Felder des Klassenkampf treten wird und muss.

„Was ist das für eine Welt, die keine Geheimnisse erträgt?“, seufzt zum Schluss Lemke-Matwey mit einem Hauch zynischer Empörung.
Das ist eine Welt Frau Lemke-Matwey, die nach Wahrheiten dürstet, nach sozialen Wahrheiten, weil sie in den Geheimnissen der Mächtigen und Herrschenden ertrinkt. Zerreißt die Vorhänge – alle!

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