vonMesut Bayraktar 08.07.2019

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

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Das folgende Interview von der deutsch-türkischen Zeitung »Yeni / Hayat« mit mir erschien in der Ausgabe vom 5.Juli 2019. Ich bedanke mich für das freundliche Gespräch.

Anfang Juni hast du an der Konferenz für Gegenkultur von Melodie & Rhythmus teilgenommen. Wie definierst du Kultur im Verhältnis zu einer Gegenkultur?

Genau wie die Bürgerlichen im Arbeitsprozess die Produktionsmittel an sich reißen und die Arbeitenden sich verdingen müssen, um sich erhalten und sich zu einem gewissem Grad auch individuell entfalten zu können, eignen die Bürgerlichen sich auf anderer Ebene kulturelle Ausdrucksmittel an und geben diese vor. Da ich Schriftsteller bin, denke ich da vor allem an Sprache. Auf diese Weise betrachtet, ist der Mechanismus, der sich auf der ökonomischen Ebene vollzieht, ebenso auf kultureller Ebene und in unserem klassischen Kulturverständnis zu beobachten, das, vorgeschrieben durch die Bürgerlichen, große Verblendungsregime einrichtet. Unter Gegenkultur verstehe ich deshalb eine Kultur der Konfrontation mit diesen Mechanismen. Es bedeutet nicht, dass man gegen Kultur ist oder das Kultur schlecht ist und man eine Art Antikultur pflegen sollte, wie es die Dadaisten getan haben, indem sie Kunstwerke destruierten. Gegenkultur bedeutet für mich, dass man in dieser Auseinandersetzung um Ausdruck als Getretener, seine Ausdrucksmittel wieder aneignet und entgegen herrschender Ideen, eigene Ideen zum Ausdruck bringt und etabliert.

Konfrontation und das Hinterfragen von gegebenen Ideen..

Genau, und das zum Ausdruck bringen, wo die Kultur der Bürgerlichen schweigt.

Du schreibst vermutlich deshalb in deinen Werken über die Gewalt an der Arbeiterklasse, die der Klassengegensatz hervorbringt. Hast du diese Form der Kunst gewählt, weil das nur mit Worten geht?

Um ehrlich zu sein, war das keine bewusste Wahl, es war so etwas wie ein Hineinschlittern. Zu bildender Kunst wurde mir nie der Weg geebnet. Die darstellende Kunst hingegen, vor allem die Sprache, war für mich das Nächstliegende, da du es überall mit ihr zu tun hast. Das Schreiben war für mich so etwas wie ein Bewältigungsakt von Repressionen, die ich immer erfahren, aber nie verstanden hatte. Ich suchte Worte für etwas, das da war, worüber aber mehrheitlich geschwiegen wurde und bis heute geschwiegen wird. So funktioniert auch die Gewalt an der Arbeiterklasse. Wir sprechen ja nicht nur von aktiver physischer Gewalt, sondern auch von passiver struktureller Gewalt, die überall ihre Fratzen zeigt und tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Ich bemühe mich dem Stummen eine Stimme zu geben, es zu benennen. Denn erst wenn etwas einen Namen hat, können wir uns damit auseinandersetzen. Großen Einfluss auf mich hatte etwa Franz Kafka. Er begleitet mich bis heute. Ich denke, die Kraft seiner Werke, stumme Gewalt zu entlarven, wird von vielen Linken unterschätzt. Sicherlich können auch andere Kunstformen dem Stummen eine Stimme geben, denken wir an Picassos Gemälde vom spanischen Bürgerkrieg, an Skulpturen, an Musik, ja auch an Filme, wie die von Ken Loach.

Du sagst selber, du bist durch Glück zu deiner jetzigen Person als Akademiker und Autor gekommen. Kannst du das kurz erklären?

Ich bin in einem Haushalt groß geworden, in dem Bildung nicht großgeschrieben wurde, weil sie sich bei uns nie vorgestellt hatte. Meine beiden Brüder arbeiteten in derselben Firma, in der auch mein Vater seit Jahrzehnten bis heute arbeitet und eigentlich war es immer ganz selbstverständlich, dass ich auch irgendwann dort anfange. Abitur habe ich zufällig gemacht, weil eine damalige Freundin mir gesagt hat, ich solle mich doch auch bitte nach der Realschule an der Gesamtschule bewerben. Ich habs gemacht und wurde angenommen, obwohl ich nicht mal wusste, was ich mit dem Abi machen sollte. Mein Vater hat mir nach dem Abi trotzdem einen Einstellungstest arrangiert für das Unternehmen, in dem er und meine beiden Brüder arbeiteten, aber als ich dann dort war, wurde mir klar, dass ich nicht dorthin wollte. Ich kannte das Leben, das mich dort erwartete. Ich habe absichtlich Fehler beim Test gemacht, um meinen Eltern offiziell zu beweisen, dass ich nicht dorthin gehöre. Danach hatte ich die Freiheit, etwas Anderes zu machen. Lange habe ich das als etwas Positives bewertet, diese Freiheit. Später ist mir klar geworden, dass die Tatsache, nur mit Glück dorthin gekommen zu sein, wo ich war oder bin, bedeutete, dass die andere Entwicklung “normal” ist, also Struktur hat. Dass es von Zufall abhängt, welches Leben man führt, welche Bildung man genießt und welche Arbeit man wählt, das ist wohl eher eine Schande, ein Armutszeugnis unserer gesellschaftlichen Struktur, weil sie beweist, wie unfrei man doch eigentlich ist. Und wieder wird darüber geschwiegen, denn unser Wertesystem vermittelt, es hänge von Leistung und Intelligenz und sonst was ab, wohin uns das Leben führt. Heute verurteile ich das.

Der Soziologe Aladin El-Mafalaani untersuchte extreme Fälle von Bildungsaufsteiger*innen aus benachteiligten Milieus und stellte auch heraus, dass der Bildungsaufstieg in allen Fällen mit einem Zufall zusammenfiel. Die Untersuchung zeigte allerdings auch, dass der Aufstieg weniger herausfordernd wegen stetiger Fleiß- und Talentanforderungen war, sondern weil die Betroffenen vielschichtige Trennungserfahrungen (Trennung von Orten, von Personen aus dem Herkunftsmilieu, Praktiken, Symbolen usw.) machen, was dazu führt, dass es zu einer Distanz bis hin zur Entfremdung von der eigenen Vergangenheit und dem Herkunftsmilieu kommt. Kannst du das bestätigen?

Ich könnte eine verdammte Vorlesung über dieses Thema halten. Aber kurz gesagt: wenn du aus einem sozialen Milieu kommst, in dem kein kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital, auch symbolisches und vor allem kein strategisches Kapital (im Sinne von sozialen Netzwerken) gegeben ist, dann ist natürlich Bildung der einzige Weg, der dir eine Perspektive eröffnet und den man anschließend „sozialen Aufstieg“ nennt. Aber auch da bestimmten meinen „Aufstieg“ Zufallsbegegnungen mit Schülern aus anderen sozialen Milieus oder Personen, wie eine Kunstlehrerin auf der Gesamtschule, die mir viele neue Einblicke eröffnet hat. Denn solange du nur in der Enge deines eigenen Milieus lebst, merkst du gar nicht, dass du unterdrückt wirst. Für dich ist alles ganz normal, als würde jeder dasselbe Leben führen wie du. Und das, was sich nicht gut anfühlt, das, was sich als Leid ausdrückt und Schmerz, das wird weg radiert mit traditionellen Werten, die man klassischer Weise von der Religion geliefert bekommt. Aber wenn du dieses Milieu verlässt, dann stellst du überhaupt erst einmal fest, dass andere gefüllte Bücherregale zu Hause haben, während das bei dir und niemanden, den du bisher kanntest, der Fall war. Plötzlich kommt dieses »Warum?«. So kam ich immer mehr ins Grübeln und suchte Antworten, die instinktiv politischer Art waren, obwohl Politik zuhause oder in meinem Viertel auch keine große Rolle spielte. Dann kam das Marx-Studium, das war entscheidend, weil es mir das erste Mal Begriffe lieferte, die mir die Mechanismen meines Lebens erklärten und gleichsam auch Handlungsperspektiven eröffneten. Es gab aber auch eine sehr einsame Zeit, mit etwa 23 oder so, denn ich hatte mich entfernt von meinem Herkunftsmilieu, ich kam aber auch in bürgerlichen nie ganz an. Wenn ich viel gelesen hatte, war ich immer noch das Arbeiterkind, das Aschenputtel oder sonst was nicht kannte oder Der-Die-Das-Fehler machte, und auch wenn ich viel über Goethe wusste, war ich immer noch der Türke.

Die Klassengesellschaft birgt einen inneren Widerspruch, der zu Ausbeutung und Gewalt an der Arbeiterklasse führt. Charakteristisch für unsere marktliberale Gesellschaft ist die unsichtbare Herrschaft oder wie du sagst die passive Gewalt. Was gibt es noch zu tun, diese Verhältnisse zu überwinden?

Ich denke, dass die Literatur einen kleinen aber wichtigen Funken leisten kann, indem sie die Ausweglosigkeit des Bestehenden in das Bestehen von Auswegen überführt, Auswege sichtbar und erfahrbar macht, trotz alledem. Ich glaube nicht, dass die Literatur allein im Stande ist, Verhältnisse zu überwinden, ich glaube auch nicht, dass die Kunst dazu im Stande ist. Die Literatur kann aber leisten, dass durch die reale Darstellung, durch die poetische Durchdringung der Verhältnisse die Starre, in der man lebt, ins Wanken, ins Tanzen, kurz: in Bewegung kommt und dabei den Menschen, vor allem den Unterdrückten zeigt, dass es so etwas wie Klasse gibt. Nicht im ideologischen Sinn, sondern im Sinne eines faktischen Ausdrucks, im Sinne von Klassenbildern, in denen man sich wiederfindet. So trägt sie dazu bei, dass man dadurch endlich lernt, dass es nicht so etwas wie DIE Klasse gibt, sondern das jeder einzelne, der geschlagen, herabgesetzt und disqualifiziert, der ausgegrenzt wird, dass jeder dieser Einzelnen selbst die Klasse ist, dass man als Individuum permanent auf der Straße die Klasse mit sich trägt, wie die Jeans oder die Paar Schuhe.

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https://blogs.taz.de/stilbruch/2019/07/08/solange-du-in-deinem-milieus-lebst-merkst-du-gar-nicht-dass-du-unterdrueckt-wirst/

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kommentare

  • Erhellender Artikel, der auch meine Erfahrungen in Worte fasst. Und das ganz ohne ausländische Wurzeln. Betonen möchte ich noch, dass sozialer Aufstieg einfach sehr anstrengend ist. Das ist auch ein signifikanter Unterschied im Vergleich zu denen, die in die entsprechende Klasse hineingeboren wurden. Damit meine ich nicht Fleiß und Disziplin, sondern die seelische und geistige Leistung.

    • Das is alles sehr einleuchtend erlautert, aber leider zu spezifisch und der wesentlichste Teil dabei ausgelassen:
      Warum wird ein mensch geboren in >>>>> a.) glanzender umgebung, geistig /physical fit oder nicht fit und ein anderer >>>>b.)im Dreck geboren, geistig /physical fit oder nicht fit und wieder andere >>>>c.)in einem land wie Brazilian,Argentina in einem slum oder in der Oberschicht geboren, geistig /physical fit oder nicht??
      A. Ist es das karma, das jeder in seinem Gepack mitbringt bei seiner Geburt???-Ein computer outputder Vergangenheit.
      B. Ist A.) der Schlussel zum Sinn jedes Lebens und deren Bewaltigung als Mensch, wenn nicht sogar aller lebewesen dieser Erde “der sich des rechten Weges wohl bewusst ” und danach sein Leben gestaltet, will oder muss, regardless der ausseren Umstande.
      C. Die Bewaltigung der “mitgebrachten” Umstande positiv oder negative, ist dies nicht der Weg von hier nach dort und das Lebensresultat, ein individuales Leistungsbegehren oder Versagen oder just Drifting-along Leben, was am Ende ein computerwertung ergibt, unbekannt nicht nur fur Menschen, sondern fur jedes Lebewese dieser Erde.
      Klagen uber diese vorgenannten Tatsachen sind das nicht Kulleraugenblick die wirklichen Grunde zu vereinen und sich zu beschweren???? anstatt als eine Aufgabe des Daseins anzuerkennen.
      Wie dem auch sei, personlich erlittene Ungerechtigkeit oder erwirkte Bevorzugung andert nicht die dafur ubersehenen menschliche /weltliche Grundregeln .
      Does it make sense!!!???
      Ende

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