vonMesut Bayraktar 29.09.2019

Stil-Bruch

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Alle Volksstücke Ödön von Horváths sind dankbar. Sie scheuen sich nicht, Klassenkonflikte beim Namen zu nennen. Sie bieten Bewusstsein im Kampf gegen kleinbürgerliche Illusionen, eine Synthese zwischen Ironie und Realismus, die das Instinktspiel des Unbewussten aufdeckt. Man nimmt seine Stücke wie ein Glas Wasser zu sich, nicht auf einmal, sondern schluckweise und am Ende stellt man das leere Glas wieder auf seinen Platz, grübelnd, ob es nicht doch Weißbier war, obwohl das Wasser bereits in die organische Zirkulation eingegangen ist.

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito hat diese Struktur treu nach der Gebrauchsanweisung des Autors in »Italienische Nacht« umgesetzt: Mit Witz, Ernst, Klarheit, Geschmack und vor allem Unbehagen. In seiner Inszenierung am Stuttgarter Schauspiel zeigt er, dass der Mensch erst durch die Sprache lebendig wird. Durch den Verzicht auf medientechnische Spektakel verweist seine Regie auf den elementaren Charakter von Theater. Die Vermittlung des faktischen Abweichens von den Ansprüchen des Gesprochenen bringt die Parallelen von 1930 und heute implizit zur Darstellung. Dabei hat Bieito nichts gekürzt oder unsinnig modernisiert, sondern radikal die Unfähigkeit der bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräfte vor dem aufziehenden Faschismus thematisiert, so wie es im Stück angelegt ist – Schauspieltheater durch und durch.

Da ist zum Beispiel die Szene mit dem Stadtrat, den Elmar Roloff mit großer Menschenkenntnis als »draußen Prolet, drinnen Kapitalist« überzeugend darstellt. Während die Ortsgruppe des republikanischen Schutzverbandes die italienische Nacht feiert und die Faschisten zeitgleich eine militärische Übung unternehmen, unterschreibt er zwischen Bier und Posaunenklang zugeschobene Dokumente und steckt sich im Gegenzug ein Haufen Geldscheine in die Jackentasche. Wenn er spricht, dann mit der moralisierenden Erhabenheit einer schönen Seele, die die Worte des bleichen und mit Gebärden eines Möchtegernübermenschen gespielten Marxisten Martin (David Müller) ignoriert, der da sagt: »Wer die wirtschaftliche Macht hat, hat immer recht.« Zuvor hat der Stadtrat Martins Vorschlag, sich zu bewaffnen, im großen Pathos der bürgerlichen Vernunftaufklärung abgelehnt, worauf Martin rhetorisch fragt: »Kennen Sie noch einen gewissen Karl Marx?«

Nachhall hat auch die Szene, in der der Faschist Erich (Matthias Leja) das Wirtshaus mit seiner Schlägertruppe betritt, um den Stadtrat und seine Leute wegen der Schändung eines kaiserlichen Denkmals zu verprügeln. Der von Sigmund Freuds Theorie angetane Opportunist und Bürokrat Betz (Michael Stiller) will Erich eine rote Nelke als Zeichen parlamentarischer Gesprächsbereitschaft überreichen. Der ignoriert den subtilen Vorgang, sodass Betz die Nelke in seiner Jacke verschwinden lässt. Der Gestus: Mit Faschisten spricht man nicht, man bekämpft sie. Matthias Leja weiß die martialische Zerstörungslust Erichs mit erfrischender Energie und infantilen Sentimentalitäten darzustellen.

Auch wenn es der Aufführung zuweilen an Geschwindigkeit fehlte und die dialogischen Pausen den Kampf zwischen Bewusstsein und Unbewusstem nicht aufscheinen lassen, ist sie doch ein Ruf nach einem eingreifenden Realismus im Theater.


Hinweis: Der Text erschien erstmals in der Tageszeitung »junge Welt« in der Ausgabe vom 24.09.2019. Mit freundschaftlichem Einverständnis der Geschäftsführung des Verlag 8. Mai ist der Text folgend zu lesen.

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