vonMesut Bayraktar 16.12.2019

Stil-Bruch

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I. Polizeigewalt ist organisierte Gewalt der Bürgerlichen gegen das Selbstorganisieren der Leidenden. Zielscheibe ist der Mensch im Zustand der Revolte seines Körpers gegen das Leiden, das ihm der Verwertungsprozess des Kapitals zufügt. Arbeitsplatz der Polizeigewalt ist die Straße, Arbeitsgegenstand der revoltierende Körper und Arbeitszeit jene Freizeit der Leidenden, die verlängerte Arbeitszeit ist. Am 1. Juni 2013 war ich in Frankfurt im Europaviertel in der Nähe der europäischen Zentralbank. Die sogenannte Euro-Krise befand sich auf einem Höhepunkt. Inmitten von zehntausend Menschen war ich das erste Mal auf einer großen Demonstration und fühlte mit jedem Schritt den Schritt einer Bewegung von Zehntausenden. Die Verkehrszeichen wurden ersetzt mit Transparenten eines Protests, der zum Widerstand gegen das Bestehende drängte, ohne eins zu sein, denn keine gesellschaftliche Alternative einte ihn. Der Lärm der Kapitalakkumulation im Alltag wich der Melodie der Empörung, die ihre Saiten über Fäuste, Lungen und Stirnen spannte. Wir wurden beobachtet, geduldet. Am Straßenrand bildete sich eine Kette in anonymisierten Menschengestalten. Sie waren ausgerüstet, mit Schutzhelmen, gesichtslos – die Anwesenheit von professioneller Gewalt. Plötzlich öffnete sich an einer Stelle die Kette. Ein Mann sprang vor, sprühte Tränengas, fiel zurück, und die Kette der Klassengewalt verriegelte sich wieder. Hätte nicht neben mir ein junger Mann mit langen blonden Haaren in etwa meinem Alter gestanden, der als Zielobjekt niedergestreckt wurde, so hätte die Gewalt mich getroffen. Ich hatte Glück. Das lehrte mich: Polizeigewalt ist Willkür, und sie interessiert nicht, wer du bist, sondern dass du leidest und zusammenbrichst. Das ist ihr Staatsauftrag.

II. 2013 war der Anfang einer Entwicklung, die 2017 mit den G20-Protesten in Hamburg ihren qualitativen Sprung vollzog. Nach den Terroranschlägen 2015 in Paris und Brüssel und 2016 in Berlin wurde der Dschihadismus als Begründung für eine bundesweite Reform des Polizeirechts funktionalisiert, die zu einer zunehmenden Militarisierung der Polizei geführt und zur breiten Offensive gegen Linke ermächtigt hat. 2017 schließlich kam der Vorstoß aus Bayern, vor allem in Form des Polizeiaufgabengesetzes, das nun allen Bundesländern als Muster gilt. Auf Bundesebene koordiniert die Innenministerkonferenz. Unter Experten wird es wegen der Grundrechtseinschränkung mit Polizeigesetzen im Faschismus verglichen. Neue Spezialeinheiten werden aufgestellt und Streifenbeamte in Schnellkursen paramilitärisch geschult. Handgranaten wie Maschinenpistolen, Taser und schwere Schutzausrüstung finden ihren Platz in Streifenwagen. Die deutsche Polizei zählt weltweit zu den Spezialisten in der Aufstandsbekämpfung. So leistet sie seit Jahren Ausbildungsarbeit für Repressionsbehörden in Afghanistan, Ägypten und Mali. Damit bildet sie gleichsam sich selbst aus. Die Erfahrungen bringt sie mit nach Deutschland. Der Geist der neuen Polizeigesetze speist sich aus dem Klassenkampf der Bürgerlichen gegen die Gegner des globalisierten Kapitals. Vor allem aber haben die Novellen die Polizeigewalt entfesselt. Das sieht man im Hambacher Forst oder bei der Abschiebung eines Vertriebenen. Die Neufassungen bereiten den Boden für eine Konterrevolution, die die Rechten vollziehen werden, sobald die Profitrate fällt und die Märkte nach Absicherung der Ausbeutung rufen – es sei denn: die Vernünftigen verhindern es.

III. Gewalt ist eine ökonomische Potenz in der Klassengesellschaft. Sie ist das wesentliche Moment in der ursprünglichen Akkumulation. Ebenso wie der Bauchnabel auf das Geborensein verweist, trägt unsere Gesellschaft ihren Nabel im Produktionsprozess mit sich. Nicht der Himmel hält unsere Gesellschaft aufrecht, sondern materielle Herrschaft, die menschliche Körper in die Ware Arbeitskraft verwandelt. Der Zusammenstoß von Arbeitskraft mit konstantem Kapital ist der Herzschlag, der permanent soziale Gewalt durch den Gesellschaftskörper jagt. Gewalt steht nicht neben der bürgerlichen Gesellschaft, sie bewohnt sie. Staatsgewalt ist demnach jene organisierte Gewalt, die aus der Ausbeutung aufsteigt und sich in alle Bereiche der Gesellschaft ausdehnt. Wenn das Militär das Vollzugsorgan dieser Gewalt nach außen ist, so ist die Polizei das Vollzugsorgan derselben Gewalt nach Innen. Beide sichern auf ihre Weise die Kapitalakkumulation. Anders als der Soldat aber ist der Polizist der Betriebsaufseher auf der Straße.

IV. Der Polizeibeamte trägt die repressiv-technokratische Charaktermaske des Wertgesetzes. Behandeln die Psychologen die entzündete Seele, die Mediziner die physische Krankheit, die Richter das Gewissen und die Kulturindustrie den Geist, ist der Polizist für die Einheit des menschlichen Körpers zuständig. Er ist das Objekt der Polizei. Dieses Objekt schlägt und formt der Polizist, sobald es beansprucht, politisches Subjekt zu werden. Ebenso wie dem Schlosser bei der Umformung von Metall stehen dem Polizisten für die Bearbeitung des menschlichen Körpers Werkzeuge zur Verfügung: Schlagstock, Pfefferspray, Wasserwerfer, Handschellen, Schusswaffe. Treten die Leidenden aus ihrer Isolation, überwinden sie ihre Furcht und tun sie sich zusammen, dann hat der Polizist nur eine Aufgabe: den Knüppel über die Köpfe zu ziehen und die Masse in Atome zu spalten, die Auflösung des Kollektivs in Exemplare. Die Polizei ist die Autorität, die Erfahrungshorizonte absteckt, hinter denen das Gefängnis Abtrünnige aufsaugt. Im Zweifel gilt die Schuldvermutung des Anvisierten. Die Ermächtigungsgrundlage im Augenblick des Faktischen heißt Selbstermächtigung. Der Unvernunft sich entgegenstellen verlangt, die Unvernünftigen zu nennen, etwa Hartmut Dudde, den Gesamtpolizeiführer des brutalen Einsatzes der Staatsgewalt gegen die G20-Proteste in Hamburg.

V. Die Polizei ist ein System der Ordnung, in dem sich die Macht selbst applaudiert. Ihr Kunststück ist, das zu zerstören, das vor der Selbstzerstörung des Menschen rettet: Solidarität. Denn Solidarität ist ein Kämpfen, das Unordnung bringt, und Unordnung ist ein Bote für eine bessere Ordnung. Daher wird der Polizist im Hass auf Unordnung trainiert. Seine Liebe gilt dem Vorhandenen, nicht dem möglichen Anderen. Das Nichtidentische in der bürgerlichen Gesellschaft ist das Prinzip Solidarität. Es gefährdet den bürgerlichen Individualismus, der sich als Atomisierung auszeichnet. Polizeigewalt ist der Versuch, die Solidarität mit dem System identisch zu machen. So ist ihr Zweck die Einsamkeit des Menschen, indem sein Körper angegriffen wird. Wer den Körper beherrscht, bricht den Geist. Das wissen die Bürgerlichen seit dem Augenblick, als die arbeitenden Klassen vor 170 Jahren ihr geschichtliches Recht einzuklagen begannen. Darüber schrieben Lenin und Rosa Luxemburg. Daher haben die Bürgerlichen die Polizei, die älter als sie selbst ist, vom Ancien Régime geerbt, um die Geschichte von Klassenkämpfen fortzusetzen.

VI. Der Unterdrückte blickt mit Argwohn und Widerwillen auf den Polizisten. Er weiß: Der Polizist verlässt seine Wohnung – Aber wo geht er hin? Zu ihm. Im Polizisten figuriert die Klassengewalt im Glanz einer uniformierten Präsenz, die davor blenden soll, dass die historische Pflicht zur Freiheit ersetzt wird mit dem geschichtslosen Recht auf Gehorsam. Diese Inkarnation der Herrschaft ruft die Körper der Beherrschten fortwährend zur Räson, immer und überall, auch wenn der Polizist nicht zu sehen ist. Dies hat schon Hegel erkannt. In seiner Rechtsphilosophie schreibt er, dass die »polizeiliche Vorsorge« zunächst »das Allgemeine verwirklicht und erhält«, das sich als Mehrwerterzeugung erweist. Im Inneren stellt sie sicher, dass die »über die Gesellschaft hinausgetriebenen Interessen« im Außen verfolgt werden können. Diese Interessen nennt Hegel die Kolonisation anderer Völker, wo »Konsumenten und die damit nötigen Subsistenzmittel« gesucht werden. Denn »bei dem Übermaße des Reichtums ist die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug, d.h. [sie besitzt] an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.« Dieser Widerspruch kommt heute mit den Novellen der Polizeigesetze wieder zum Vorschein. »So kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück; dies macht die Bestimmung der Kooperation aus.« Mit anderen Worten: Polizeigewalt ist ein Disziplinierungsregime sozialer Beziehungen zum Zweck der Selbstverwertung des Wertes. Sie ist Einkörperung der Reaktion. Gerade das beweisen die jüngsten sozialen Bewegungen und sozialen Kämpfe. Sie lehnen sich gegen die Steuerung ihrer Gesten und die Leiden ihrer Körper auf, mit denen sie der Tauschwert martert. Jede Sitzblockade gegen Polizeigewalt ist ein Moment der Befreiung des Körpers. Der Mensch lebt, solange die Solidarität lebt.


Der vorliegende Text erschien erstmals im »Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur« (4/2019). Mit freundlichem Einverständnis ist der Text nun auch im taz.stilbruch zu lesen.

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kommentare

  • Mit anderen Worten:
    Man sieht mit Häme zu, wie dem Staat immer mehr sein Gewaltmonopol entgleitet und möchte den Rechtsstaat gern in einen Gesinnungsstaat umwandeln.
    Was gibt es dazu noch zu sagen?!

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