vonErnst Volland 12.09.2006

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Am frühen Morgen ziehen dunkle Wolken auf. Es ist der 1. Mai. In dieser

Jahreszeit kann es immer regnen. Ich befinde mich auf der Autobahn

Richtung Hannover, das Ziel ist Gelsenkirchen. Der Wagen ist vollgestopft

mit Ware: Plakate, Postkarten, Sticker und Bücher.

Hans Günter schläft auf dem Beifahrersitz, in der Hand eine nicht

angezündete Zigarette.

„Noch zwanzig Kilometer bis Hannover, Hans Günter.“

Die Zigarette rutscht ihm beim Umdrehen zur Fensterseite aus der Hand.

„Weck mich in Gelsenkirchen.“

Auf Hans Günter kann man sich verlassen. Kaum haben wir unseren Stellplatz

zwischen einem Döner- Stand und einer 3. Welt Gruppe in Augenschein

genommen, zieht er den Tapetentisch aus dem Auto, spannt Seile auf,

die weit aus unserem Feld hinausragen und befestigt die Plakate.

Der Gewerkschaftsbund hat wie in jedem Jahr zu einem großen Maifest

eingeladen und zweihunderttausend Gäste werden erwartet.

Die Sonne scheint und schon kommen die ersten neugierigen Gäste.

Am Abend, beim Italiener, werden die Einnahmen gezählt. Es war ein guter Tag

die Miete für zwei Monate gesichert. Ein drittes Bier wird geordert, in der Hosentasche

klimpert das Kleingeld.

„Das lief doch ausgezeichnet, jetzt könnten wir doch einen kleinen

Gang durch die Gemeinde machen.“

Wenn Hans Günter von kleiner Gemeinde spricht, meint er immer einen

Kneipenrundgang.

„Wir müssen uns um eine Übernachtung kümmern, also, auf in die

nächste Studentenkneipe, Hans Günter, lass deine Beziehungen spielen.“

„Langsam, langsam, das läuft. Ich hätte ja richtig Bock auf

ne rote Reviertour, mal son bisschen ein anderes Milljö schnuppern.“

„Aber wir waren doch den ganzen Tag bei den Roten, wo willst

du denn noch hin?“

„Jetzt zahlen wir unsere Pizzen, bestellen ein Taxi,

und dann geht’s los. Mal sehen, was das Revier für zwei schmucke Kerls

zu bieten hat.“

„Rotlicht, Rotlicht, das haben wir nicht in Gelsenkirchen,

wenn Sie Rotlicht und Fikki Fikki wollen, müssen Sie nach Bochum.“

Der Taxifahrer schaut uns im Rückspiegel an und fährt nach

Aufforderung Richtung Bochum.

„Da, gehen Sie da mal rein, da ist immer was los.“

Die Kosten der Fahrt sind erheblich, schnell wechselt das Geld den

Besitzer.

An der Theke sind einige Plätze frei. Hans Günter zeigt mit seinen Fingern

das Victory Zeichen und schon stehen zwei Bier vor uns.

„Zum Wohle die Herren, ich heiße Anita.“

„Ja, so geht das hier.“ Hans Günter rekelt sich auf dem Barhocker.

„Anita, mach dich doch mal frei, äh ich meinte, noch mal zwei. Für

meinen Chef und mich.“

Der Alkohol, die anstrengende Arbeit im Freien und das Essen wirken.

Ich bin müde und schalte ab, schaue ins Bier und auf die Auslage der

Theke. Zufriedenheit kriecht an mir hoch, wir hatten den Umsatz für

einen ganzen Monat an einem Tag machen können.

Hans Günter unterhält sich angeregt mit Anita. Ich höre nicht zu.

Plötzlich werden wir von hinten am Kragen gepackt und durch

die Kneipe zur Tür geschleift und dort draußen abgeladen.

Gleich nebenan steht die nächste Kneipe.

An der Theke sind zwei Sitze frei.

„Was war denn los Hans Günter?“

„Keine Ahnung, vielleicht, weil ich plötzlich den Moralischen gekriegt habe.

Wegen Anita. Du weißt, doch, ich war mal Sozialarbeiter und das

kommt immer wieder durch. Das Mädel hatn kleines Kind, und geht in so einem

Schuppen anschaffen, wie sie mir erzählte, da habe ich sie kräftig

zusammengestaucht und gesagt, sie solle was Anständiges arbeiten.

Und dann haben sie uns gepackt, bisschen heavy oder? Zwo Helle bitte“

„Wir sollten zurück nach Gelsenkirchen, Hans Günter, bitte, lass uns

dort in eine nette Studentenkneipe gehen und was zum Übernachten suchen.

Es wird immer später.“

„Jetzt habe ich erst mal zwei bestellt und dann schaun wir mal.“

Ich ärgere mich über Hans Günter. Wenn er nicht eine so gute Kraft

beim Verkaufen wäre. Ich wende mich ab und starre in meine Bier.

An der Musikbox steht ein kräftiger Mann mit verschränkten Armen.

Hans Günter unterhält sich mit seinem Barhockernachbarn, ein dunkelhaariger, etwa

30jähriger Mann, der kaum antwortet.

Vom Alkohol ermüdet, spricht Hans Günter sehr langsam,

seine Worte schläfern mich noch mehr ein.

„Was, du bist Zuhälter und Ausländer, das finde ich überhaupt nicht gut.“

Kaum ist dieser Satz beendet, springt der Mann an der Musikbox mich ohne

Aufforderung wie ein Tiger an, zerrt mich vom Barhocker, schleift mich über

den Boden und stößt meinen Körper gegen die Kneipentür.

Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie der Barhockernachbar

Hans Günter rückwärts durch den ganzen Raum schleudert und dieser

wie in einer Westernszene Stühle und Tische mitreißt.

Ich spüre Schmerzen, sehe die Türklinke und bin draußen.

Wenig später torkelt Hans Günter aus der Tür, einen dunklen Fleck auf der Hose, der bis in die Kniekehlen reicht. Er hat nicht mit diesem Angriff gerechnet und vor Schreck in die

Hosen gepinkelt.

„Hans Günter, mit dir kann man ja nirgends hingehen, komm wir nehmen

eine Taxi und fahren zurück.“

Im Taxi klopft Hans Günter seine Kleidung ab, greift mit der Hand in den

Mund, um zu prüfen, ob alle Zähne noch an der richtigen Stelle sitzen

und schon lachen uns zwei Bier in einer fast leeren Studentenkneipe

in Gelsenkirchen an. Auf einem abgewetzten Sofa sitzt ein Paar, das

nach Schenkung von zehn humoristischen Postkarten bereit ist, unsere

Schlafsäcke aufzunehmen.

Ein letzter Schlummertrunk wird geordert, und der Wirt, ein abgebrochener Volkswirtstudent, stellt schon die ersten Stühle auf die Tische. Jetzt ist es wirklich

Zeit, das Lokal zu verlassen und in einen süßen Traum zu versinken.

Das Pärchen wird eingeladen und ich gehe als erster vor die Tür, um die

frische Luft der Nacht zu atmen.

Nach drei Metern spüre ich einen dumpfen Schlag an meiner Kehle.

Ich weiß nicht, woher der Schlag kommt und von wem er ist. Benommen

fasse ich an meinen Hals, schmecke Blut und in mir steigt

Wut auf, die mich gleichzeitig aggressiv macht.

Vor mir steht eine hünenhafte Gestalt. Das muss der Täter sein, denke

ich instinktiv und stürze mich auf ihn. Die Wut verleiht mir Bärenkräfte.

Wie benommen, ohne jeder Reflektion gelingt es mir den Mann

in den Schwitzkasten zu nehmen, den Kopf knalle ich immer wieder

auf die Haube eines parkenden Autos.

„Warum, warum“, schreie ich und in meinen Schrei lege ich in diesem

Augenblick all die Ungerechtigkeiten, die ich je erfahren habe.

Wie aus dem Erdboden gewachsen stehen plötzlich

Polizisten um uns herum, trennen uns mit neuer Gewalt.

Der etwa 20jähriger junge Mann steht vor mir, im Griff eines

Polizisten gebeugt.

„Jetzt haben wir dich endlich,“ Ein Polizist legt ihm Handschellen an.

Hans Günter hat noch kein einziges Wort gesagt.

„Wir sind angerufen worden. Der junge Mann hat seit einer Stunde

etliche Schaufensterscheiben eingeschmissen und Autos demoliert.

Sie haben Pech gehabt sind ihm bei seiner Frusttour zufällig

über den Weg gelaufen. Soll Ärger bei der Bundeswehr haben.

Wir bringen Sie ins Krankenhaus. Die Wunde muss genäht werden.“

Das nette Pärchen geht allein nach Hause.

Im Krankenhaus arbeitet ein persischer Arzt im Bereitschaftsdienst.

Er verpasst mir eine bleibende Narbe.

Draußen ist es schon hell. Wir fahren aus Gelsenkirchen auf den nächsten

Autorast-Parkplatz und versuchen etwas zu schlafen.

Meine Geburtstagsfeier in kleinem Kreis findet drei Tage später statt.

Das Sprechen fällt mir schwer. Hans Günter überrascht mich mit seinem Geburtstagsgeschenk: Ein Paar stabiler Boxhandschuhe, für Profis.

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