Das Tanzohr.
Er sparte sein Taschengeld und bestellte
heimlich das Zaubermittel. In Illustrierten sah er immer
wieder die Anzeige für das Zaubermittel in einer Wimmelanzeige.
Der kleinformatige Hinweis war schlicht wie beeindruckend und
hatte das Motto: Vorher- Nachher. Neben diesen beiden
Worten sah man das Portrait eines Mannes.
Der Unterschied der beiden sonst gleichen Personen bestand in der Stellung
der Ohren. Bei einem Foto lagen sie eng am Kopf an bei dem anderen
Foto standen sie weit ab.
Das Kleingedruckte informierte, dass jeder, der das Mittel kauft und benutzt,
seine wie auch immer abstehenden Ohren für immer angelegt haben
wird.
Der Preis für das Wundermittel war exorbitant hoch, jedenfalls für
einen Schüler, der von seinen Eltern gezwungen wird, eine Tanzschule
zu besuchen und kein eigenes Geld verdient.
Die drohende Tanzstunde war der Anstoß, sich dieser
Methode zu bedienen. Er hatte ein abstehendes Ohr, während das zweite
eng anliegt und er hatte sich viele Gedanken gemacht,
wie er das abstehende in die gleiche Form
bringen konnte wie das anliegende. Denn eines war offensichtlich,
er hatte wirklich ein abstehendes Ohr.
In kälteren Tagen setzte er eine Baskenmütze auf, deren unteren
Rand er umstülpte, um sie moderner,
fast militärisch erscheinen zu lassen. Dabei verschob er die Baskenmütze
so schräg über das abstehende Ohr, dass der Rand den oberen Teil des
Ohres einklemmte und somit in eine anliegende Position gebracht wurde.
Da er ein Problem damit hatte, allein mit einer solchen Baskenmütze
herumzulaufen, überredete er einen Freund, ebenfalls eine
Baskenmütze aufzusetzen, obwohl dieser anliegende Ohren besaß.
Zu zweit schlenderten sie mit Händen in den Hosentaschen
durch die Straßen und spielten modische Avantgarde.
Ihm war klar, dass diese Variante nicht die beste Methode war,
denn der Tanzkurs fand in geschlossenen
Räumen statt und dort musst er sicherlich die Mütze abnehmen.
Nach kurzen, mehrfachen und hitzigen Diskussionen mit seinen Eltern
hatte er schließlich den Tanzkurs akzeptiert, mit der Gewissheit,
dass dieser auch einen großen Vorteil mit sich brachte.
Näher konnte man nicht an das andere Geschlecht heran-
kommen. Aber auch in dieser positiven Seite steckte sein persönliches
Problem. Nahe dran bedeutete auch: sofort gesehen und damit
meinte er sein abstehendes Ohr. Er meinte überhaupt,
wenn er auf der Straße liefe, oder irgendwo zu Besuch sei,
starre jeder automatisch auf sein abstehendes Ohr.
Es gab niemanden, der ihm das Gegenteil beweisen
konnte. All diese Teils schmerzhaften Erfahrungen mündeten
in die Bestellungsaktion.
Nach einigen Tagen kommt die gewünschte Bestellung zu einem
Freund in der Nachbarschaft. Er wollte, dass in seinem engsten Umfeld
niemand etwas von seiner Aktion erfährt, was im Nachhinein
etwas naiv erscheint, da der Erfolg des Mittels ja in seiner optischen
Veränderung zu messen ist.
In der Post lagen eine Bedienungsanleitung und drei kleine
Glasfläschchen, jede mit einer andersfarbigen Flüssigkeit gefüllt.
Rosa, hellblau und weiß.
Im Drehverschluss der Fläschchen steckte ein kleiner Pinsel.
Laut Anleitung sollte man diese Pinsel in die Flüssigkeit
tauchen und in fünfminütigen Abstand hinter das abstehende
Ohr streichen, dann zehn Minuten mit der Hand
das Ohr fest an den Kopf drücken und fertig.
„Bitte betätigen sie diesen Vorgang etwa eine Stunde bevor
sie aus dem Haus gehen oder ihr Besuch kommt.“
Genau sechzig Minuten vor der Tanzstunde führt er nach Anleitung
die Aktion durch, fährt mit dem Bus zur Tanzschule und
setzt sich in die Reihe der männlichen Teilnehmer.
„ Guten Tag meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie zu
Ihrer ersten Tanzstunde und freuen uns, dass sie so zahlreich
gekommen sind. Tanzen, das ist nicht nur eine Schule für
das Leben, das ist auch der erste Schritt zum anderen Geschlecht
und zwar in höflicher Form.“
Er schaute in die Richtung der jungen Damen, die fast alle so
alt waren wie er, aber körperlich weiter entwickelt.
Einige erkannte er, andere vermutete er
zu kennen, da diese ihr Äußeres stark verändert hatten.
„Und jetzt bitte, meine Damen und Herren, jetzt
kommt schon die erste
kleine Aufgabe. Der Herr fordert eine Dame auf, indem
er zur Dame geht, sich verbeugt und fragt. Bitte.
Wollen wir das einmal machen, es ist ganz
einfach. Jeder Herr sucht sich eine Dame aus. Und bitte.“
Der Tanzschullehrer, der in einem schwarzen Anzug seine
Ansprache hielt, strahlte.
„Nicht so schüchtern meine Herren, es kommt jeder dran.“
Auch er stand automatisch auf und ging gerade aus zu
einer Dame. Er war sehr unsicher, nahm den kürzesten Weg, obwohl
er lieber zu einer anderen, blonden gegangen wäre, die ganz außen saß.
„Und jetzt bitte ruhig stehen, jetzt kommt schon Musik. Der Herr fasst die
Dame an und umgekehrt, bitte schauen Sie hier her, so wie ich
es mit meiner Partnerin mache.“
Mit einer Hand griff er um die Taille seiner Partnerin, mit der anderen
hielt er ihren Arm in die Höhe.
„Wir spielen jetzt einen langsamen Fox und sie gehen einfach
immer gerade aus. Zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück,
ganz einfach und bitte.“
Das Paar hielt sich fest und wartete auf die Musik.
Beim ersten Ton der Musik hörte er einen lauten Knall und
anstatt zwei Schritte vorwärts zu gehen, blieb er wie
angewurzelt stehen, mit ihm die verdutzt schauende Tanzpartnerin.
Diese hatte keinen Laut gehört, keinen Ton und auf
keinen Fall einen Knall. Nur er hatte einen Knall gehört
jedenfalls kam ihm das Vorspringen seines angelegten Ohres
wie ohrenbetäubender Lärm vor, dabei knackte seine
Ohrknorpelmasse nahezu geräuschlos und sein Ohr hatte
seine ursprüngliche Stellung wieder eingenommen
Er fühlt einen stechenden Schmerz am Kopf, merkte, dass er
schweißnasse Hände bekam und rot anlief, ließ seine
Arme fallen und rannte aus dem Tanzraum.
An der Garderobe riss er seinen Mantel vom Haken und ging zu
Fuß nach Hause.
Die drei Glasfläschchen deponierte er in der Mülltonne des
Nachbarhauses.
Seine Eltern haben niemals erfahren, warum der Tanzkurs
ihres Sohnes so schnell beendet wurde. Sie gaben es schließlich auf,
einen neuen zu reservieren.
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