vonErnst Volland 02.10.2006

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Die Kirche                                                                  

 

 

Nach drei Besuchen in der Privatwohnung eines

russischen Freundes stelle ich ihm eine Frage, die ich schon

beim ersten Besuch  stellen wollte.

Der Hausherr ist nicht überrascht über diese Frage.

Zwischen zwei Fenstern in seiner Wohnung hängt

ein Bild, wie ich es andernorts noch nie gesehen habe.

Es ist eine Ikone, deren Wert  nicht genau zu bestimmen ist,

aber auch ohne fachliches Wissen kann man sehr schnell erkennen,

dass es sich hier um ein besonderes Exemplar handeln muss.

Auf einem sehr schlanken Hochformat steht eine Vier-

Personen- Gruppe vor einem vergoldeten Hintergrund.

Zentral in der Mitte steht aufrecht eine schlanke Frauenfigur,

der christlichen Darstellung Maria ähnlich.

In der Wohnung befinden sich keine luxuriösen Gegenstände.

Die schlichten Möbel bewegen sich eher auf Ikea Niveau

Der Kontrast zwischen wertvollem Bild und bescheidener

Einrichtung brachte mich auf den Gedanken, die Frage nach der Ikone

zu stellen.

„Wie kommt dieses Kunstwerk in deine Wohnung?“

Der Hausherr führt mich zur Wohnungstür und

zeigt mir sechs unterschiedliche Schlösser.

„Fünf davon sind nur für die eine Ikone. Ich bin im Besitz von sieben

weiteren Ikonen, die allerdings nicht so wertvoll sind

wie die, nach der du fragst. „

Dann öffnet er einen Schrank und holt die sieben kleinformatigen

Ikonen heraus.

„Diese sind alle später und aus künstlerisch schwächeren Perioden.

Man kann sie überall bekommen. Die an der Wand ist

einmalig. Schau mal, wie grob hier gearbeitet wurde und

vergleiche das mal mit der großen Ikone.“

„Ich habe verstanden, du hast aber

meine Frage nicht beantwortet. Wie kommt diese

Bild in deine Wohnung, also auch sicherlich in deinen

Besitz oder ist sie nur ausgeliehen?

Der Hausherr bittet mich in die Küche. Dort machen wir

es uns in der gemütlichen Sitzecke bequem. Wodka und

eine Makrele, Bier und Brot kommen auf den Tisch.

„Ja, weißt du, die Ikone gehört mir aber auch wieder nicht, sie ist

in meinem Besitz, wie soll ich das erklären. Am Besten, ich

fange von vorn an.“

Es ist heiß in Moskau, ein staubiger Wind fegt

durch die Straßen und rüttelt an den Fenstern.

„Mitten in Moskau stand eine berühmte

Kirche, die Christi Erlöser Kirche. Stalin ließ sie

in den dreißiger Jahren schleifen, um in Konkurrenz zu

Amerika, das höchste Gebäude der Welt zu bauen.

Das Vorhaben scheiterte, alle Versuche schlugen fehl.

Der Grund lag im sandigen Untergrund, was Stalin wusste, aber nicht

wahr haben wollte. Du kannst dir vorstellen, was das für

eine aufwendige Aktion war. Nun, es klappte also nicht,

und der Platz blieb bis in die Mitte der 50er Jahre leer.

Dann ließ Chruschtschow dort ein großes Schwimmbad

errichten, dass in den 90er Jahren entfernt wurde und jetzt steht eine

Replik der Kirche an diesem Ort. Unser  Bürgermeister, der mit einer

der reichsten Frauen verheiratet ist, rief zu einer Spendenaktion für

die Rekonstruktion der Kirche auf und viele Neureiche

spendeten viele Rubel.“

Ich nehme mir ein Stück Makrele, der Hausherr schenkt mir und sich

selbst ein weiteres Glas ein. Seine siebenundachtzigjährige Mutter

kommt mit einem Wodkaglas in die Küche und

gießt sich selbst ihr Glas voll.

„Das ist ja alles sehr interessant, aber was hat das mit der

Ikone zu tun?“

Mir war immer schon aufgefallen, dass

mein Freund sehr weit in seinen Ausführungen ausholte und manchmal

sogar den Faden verlor, oft, wenn er unterbrochen wurde.

„Das gehört alles zur Geschichte um die Ikone, das ist das

Vorspiel und sehr wichtig. Im Übrigen lasse ich die

Schweinereien, die beim Aufbau der Kirche vor einigen

Jahren gelaufen sind völlig weg. Die kann dir mein Freund der

Architekt für den Wiederaufbau erzählen. Ich konzentriere mich

auf das Wesentliche deiner Frage. Nastrowje! Bei euch heißt das

Prost oder prosit, nicht wahr?“

Wir stießen die Gläser an.

„Das ist ein schönes Geräusch. Ja, also ich habe mich eines Tages

gefragt- du weißt, ich interessiere mich für russische Volkskunst,

besitze eine große Sammlung- also ich habe mich gefragt, da hat

also der Stalin die ganze riesige Kirche schleifen lassen und was ist

eigentlich mit dem ganzen Zeug passiert, das in der Kirche

war, die ganzen Gegenstände, Kerzenständer, Bücher, Bilder,

Geräte usw. Davon muss doch noch irgendwo etwas sein.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Stalin und seine

Helfer alles vernichtet hatten.“

„Vielleicht hat jemand vorher etwas aus der Kirche 

gerettet“, unterbrach ich ihn.

„Genau, du hast es erkannt, genau das waren meine Gedanken, bevor

ich vor dreißig Jahren  die Recherche begann. Ich bin also ein halbes Jahr

täglich mehrmals um das Schwimmbad geschlichen. Eines Tages traf ich

einen Mann, der mir etwas sagen konnte.“
Die alte Mutter kommt ein weiteres Mal herein und

füllt sich zitternd ihr Glas, setzt sich und hört zu.

„Der Mann war der Sohn eines Küsters oder so etwas, jedenfalls

erzählte er mir, dass sein Vater die Kirche immer morgens öffnete

und abends wieder abschloss. Ich könne ihn ja mal fragen, ob

er was wüsste. Ich ging also zu seinem Vater, der kaum noch

sprechen konnte und der erzählte mir, dass er nicht Küster war, sondern

noch ganz jung eine Art Küstergehilfe. Dann machte er eine Pause

und sagte nichts mehr. Ich stellte eine Flasche Wodka auf den Tisch

und diese löste wieder seine Zunge. Mein Sohn, murmelte er, und

ich kann mich noch an jedes Wort erinnern, mein Sohn, du

musst in ein kleines Dorf zweihundert Kilometer nördlich

von Moskau gehen. Dort lebt eine Frau und die zeigt dir alles.

Er nannte mir auch den Namen des Dorfes und schon aus

reiner Neugierde bin ich sofort dorthin gefahren.“

Die alte Mutter nickt mit dem Kopf, nimmt sich die lange

Makrelengräte mit dem Kopf vom Teller und leckt einzeln die

Gräten ab.

„Kaum zu glauben“, sage ich, wie geht’s denn weiter?“

„Ich bin also in dieses Dorf gefahren und ich habe die Frau

gefunden. Ich klopfte an ihre Tür und sie machte mir auf.

Sie sagte zu mir: Endlich bist du gekommen. Dann zog sie mich

in ihr winziges Haus in die kleine Küche, schlurfte zu einer Wand,

beseitigte ein Stück Wandverkleidung und zog eine

Ikone heraus und zwar genau diese, die in meiner Wohnung

hängt.“

„Das ist nicht wahr“, murmele ich, „das kann nicht wahr sein“,

das ist unmöglich.“

„So wahr mir Gott helfe, genau so war es. Die Frau sagte

dann zu mir, ohne jede Aufforderung:

Endlich bist du gekommen. Ich habe so lange auf jemanden wie dich gewartet.

Jetzt gehört diese Ikone dir. Nimm sie mit und bewahre sie gut.“

„Und du hast sie einfach so mitgenommen?“

„Das siehst du doch, sie hängt hier, in meiner Wohnung. Ich werde

sie nie verkaufen. Sie ist mehrere Millionen Dollar wert, aber

gleichzeitig unbezahlbar. Irgendwann gebe ich sie der

Kirche zurück.“

Die alte Mutter kicherte. Wir stießen mit ihr an.

Prost, Nastrowje. Prosit.

 

 

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