Die Kirche
Nach drei Besuchen in der Privatwohnung eines
russischen Freundes stelle ich ihm eine Frage, die ich schon
beim ersten Besuch stellen wollte.
Der Hausherr ist nicht überrascht über diese Frage.
Zwischen zwei Fenstern in seiner Wohnung hängt
ein Bild, wie ich es andernorts noch nie gesehen habe.
Es ist eine Ikone, deren Wert nicht genau zu bestimmen ist,
aber auch ohne fachliches Wissen kann man sehr schnell erkennen,
dass es sich hier um ein besonderes Exemplar handeln muss.
Auf einem sehr schlanken Hochformat steht eine Vier-
Personen- Gruppe vor einem vergoldeten Hintergrund.
Zentral in der Mitte steht aufrecht eine schlanke Frauenfigur,
der christlichen Darstellung Maria ähnlich.
In der Wohnung befinden sich keine luxuriösen Gegenstände.
Die schlichten Möbel bewegen sich eher auf Ikea Niveau
Der Kontrast zwischen wertvollem Bild und bescheidener
Einrichtung brachte mich auf den Gedanken, die Frage nach der Ikone
zu stellen.
„Wie kommt dieses Kunstwerk in deine Wohnung?“
Der Hausherr führt mich zur Wohnungstür und
zeigt mir sechs unterschiedliche Schlösser.
„Fünf davon sind nur für die eine Ikone. Ich bin im Besitz von sieben
weiteren Ikonen, die allerdings nicht so wertvoll sind
wie die, nach der du fragst. „
Dann öffnet er einen Schrank und holt die sieben kleinformatigen
Ikonen heraus.
„Diese sind alle später und aus künstlerisch schwächeren Perioden.
Man kann sie überall bekommen. Die an der Wand ist
einmalig. Schau mal, wie grob hier gearbeitet wurde und
vergleiche das mal mit der großen Ikone.“
„Ich habe verstanden, du hast aber
meine Frage nicht beantwortet. Wie kommt diese
Bild in deine Wohnung, also auch sicherlich in deinen
Besitz oder ist sie nur ausgeliehen?
Der Hausherr bittet mich in die Küche. Dort machen wir
es uns in der gemütlichen Sitzecke bequem. Wodka und
eine Makrele, Bier und Brot kommen auf den Tisch.
„Ja, weißt du, die Ikone gehört mir aber auch wieder nicht, sie ist
in meinem Besitz, wie soll ich das erklären. Am Besten, ich
fange von vorn an.“
Es ist heiß in Moskau, ein staubiger Wind fegt
durch die Straßen und rüttelt an den Fenstern.
„Mitten in Moskau stand eine berühmte
Kirche, die Christi Erlöser Kirche. Stalin ließ sie
in den dreißiger Jahren schleifen, um in Konkurrenz zu
Amerika, das höchste Gebäude der Welt zu bauen.
Das Vorhaben scheiterte, alle Versuche schlugen fehl.
Der Grund lag im sandigen Untergrund, was Stalin wusste, aber nicht
wahr haben wollte. Du kannst dir vorstellen, was das für
eine aufwendige Aktion war. Nun, es klappte also nicht,
und der Platz blieb bis in die Mitte der 50er Jahre leer.
Dann ließ Chruschtschow dort ein großes Schwimmbad
errichten, dass in den 90er Jahren entfernt wurde und jetzt steht eine
Replik der Kirche an diesem Ort. Unser Bürgermeister, der mit einer
der reichsten Frauen verheiratet ist, rief zu einer Spendenaktion für
die Rekonstruktion der Kirche auf und viele Neureiche
spendeten viele Rubel.“
Ich nehme mir ein Stück Makrele, der Hausherr schenkt mir und sich
selbst ein weiteres Glas ein. Seine siebenundachtzigjährige Mutter
kommt mit einem Wodkaglas in die Küche und
gießt sich selbst ihr Glas voll.
„Das ist ja alles sehr interessant, aber was hat das mit der
Ikone zu tun?“
Mir war immer schon aufgefallen, dass
mein Freund sehr weit in seinen Ausführungen ausholte und manchmal
sogar den Faden verlor, oft, wenn er unterbrochen wurde.
„Das gehört alles zur Geschichte um die Ikone, das ist das
Vorspiel und sehr wichtig. Im Übrigen lasse ich die
Schweinereien, die beim Aufbau der Kirche vor einigen
Jahren gelaufen sind völlig weg. Die kann dir mein Freund der
Architekt für den Wiederaufbau erzählen. Ich konzentriere mich
auf das Wesentliche deiner Frage. Nastrowje! Bei euch heißt das
Prost oder prosit, nicht wahr?“
Wir stießen die Gläser an.
„Das ist ein schönes Geräusch. Ja, also ich habe mich eines Tages
gefragt- du weißt, ich interessiere mich für russische Volkskunst,
besitze eine große Sammlung- also ich habe mich gefragt, da hat
also der Stalin die ganze riesige Kirche schleifen lassen und was ist
eigentlich mit dem ganzen Zeug passiert, das in der Kirche
war, die ganzen Gegenstände, Kerzenständer, Bücher, Bilder,
Geräte usw. Davon muss doch noch irgendwo etwas sein.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Stalin und seine
Helfer alles vernichtet hatten.“
„Vielleicht hat jemand vorher etwas aus der Kirche
gerettet“, unterbrach ich ihn.
„Genau, du hast es erkannt, genau das waren meine Gedanken, bevor
ich vor dreißig Jahren die Recherche begann. Ich bin also ein halbes Jahr
täglich mehrmals um das Schwimmbad geschlichen. Eines Tages traf ich
einen Mann, der mir etwas sagen konnte.“
Die alte Mutter kommt ein weiteres Mal herein und
füllt sich zitternd ihr Glas, setzt sich und hört zu.
„Der Mann war der Sohn eines Küsters oder so etwas, jedenfalls
erzählte er mir, dass sein Vater die Kirche immer morgens öffnete
und abends wieder abschloss. Ich könne ihn ja mal fragen, ob
er was wüsste. Ich ging also zu seinem Vater, der kaum noch
sprechen konnte und der erzählte mir, dass er nicht Küster war, sondern
noch ganz jung eine Art Küstergehilfe. Dann machte er eine Pause
und sagte nichts mehr. Ich stellte eine Flasche Wodka auf den Tisch
und diese löste wieder seine Zunge. Mein Sohn, murmelte er, und
ich kann mich noch an jedes Wort erinnern, mein Sohn, du
musst in ein kleines Dorf zweihundert Kilometer nördlich
von Moskau gehen. Dort lebt eine Frau und die zeigt dir alles.
Er nannte mir auch den Namen des Dorfes und schon aus
reiner Neugierde bin ich sofort dorthin gefahren.“
Die alte Mutter nickt mit dem Kopf, nimmt sich die lange
Makrelengräte mit dem Kopf vom Teller und leckt einzeln die
Gräten ab.
„Kaum zu glauben“, sage ich, wie geht’s denn weiter?“
„Ich bin also in dieses Dorf gefahren und ich habe die Frau
gefunden. Ich klopfte an ihre Tür und sie machte mir auf.
Sie sagte zu mir: Endlich bist du gekommen. Dann zog sie mich
in ihr winziges Haus in die kleine Küche, schlurfte zu einer Wand,
beseitigte ein Stück Wandverkleidung und zog eine
Ikone heraus und zwar genau diese, die in meiner Wohnung
hängt.“
„Das ist nicht wahr“, murmele ich, „das kann nicht wahr sein“,
das ist unmöglich.“
„So wahr mir Gott helfe, genau so war es. Die Frau sagte
dann zu mir, ohne jede Aufforderung:
Endlich bist du gekommen. Ich habe so lange auf jemanden wie dich gewartet.
Jetzt gehört diese Ikone dir. Nimm sie mit und bewahre sie gut.“
„Und du hast sie einfach so mitgenommen?“
„Das siehst du doch, sie hängt hier, in meiner Wohnung. Ich werde
sie nie verkaufen. Sie ist mehrere Millionen Dollar wert, aber
gleichzeitig unbezahlbar. Irgendwann gebe ich sie der
Kirche zurück.“
Die alte Mutter kicherte. Wir stießen mit ihr an.
Prost, Nastrowje. Prosit.