Mitten in Berlin.
Seit einigen Wochen wohnt ein junger Spanier aus Valladolid
in meinem Atelier. Das Goethe Institut Berlin hatte angefragt,
ob ich ein Zimmer zur Verfügung hätte. Ich sagte zu.
Es kam ein 22 jähriger schlanker Mann, der jetzt Dank Goethe
versucht, die deutsche Sprache zu lernen. Wir sehen uns selten.
Nach wenigen Tagen fragte er mich, ob seine spanische Freundin,
die in Paris lebt, auch für eine Woche in meinem Atelier wohnen kann.
Als sie kam, kochte ich Spaghetti,
stellte eine Flasche Rotwein auf den Tisch und das Essen
dauerte bis vier Uhr früh.
Paolo, mittellange Haare, die er mit einem stabilen Haarreifen
bändigt, damit sie nicht ins Gesicht fallen, entpuppte sich als
beachtlicher Weinkenner. Er konnte nicht nur den Wein
genießen, sondern auch qualitativ unterscheiden und diesen
Unterschied fachmännisch begründen.. Seine Kenntnisse
verblüfften mich, wusste ich in seinem Alter nur, dass es
Weiß- und Rotweine gab, aber sie reizten mich auch, die
besten Flaschen aus meiner Vorratskammer (Lagerung bei 18 Grad)
zu holen.
Flasche für Flasche wurden begleitet mit einem Mix
aus Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch.
Beide wussten genau, was sie wollten: Sie hatten eine
Perspektive, eine genaue Vorstellung ihres zukünftigen
Berufes und vergaßen den dazugehörigen Spaß nicht.
Berlin, versicherten sie mehrmals, sei die Stadt, in der
sie leben möchten.
Paris sei zu versnobt, London zu teuer, nur Berlin habe
genau die richtige Mischung aus schrägen Clubs, jungen
internationalen Menschen, bezahlbaren Mieten und einem
interessanten historischen Hintergrund. Sie hätten sich schon
eine Wohnung angeschaut, um sie zu kaufen.
Ich selbst kam aus der Provinz mit ebenfalls 22 Jahren
Ende der 60er Jahre zum ersten Mal nach Berlin.
Vom Bahnhof Zoo fuhr ich mit dem Bus zweimal den
Kurfürstendamm rauf und wieder runter. Ich war aufgekratzt
und staunte, sah die Leuchtreklamen aber auch noch Trümmerreste,
hörte den Berliner Dialekt, sah Studenten, die demonstrierten,
demonstrierte mit, für eine bessere Welt und vor allem
gegen den amerikanischen Imperialismus. Dreißig Mark im
Monat kostete das winzige Zimmer bei einer alten Witwe in
der Nähe der Kunstakademie, mit Familienanschluss.
Bald hatte ich eine Einzimmerwohnung mit Außentoilette,
dann zog ich in eine WG (Kommune) um, die sich im
zweiten Stock in einer Fabriketage in Kreuzberg befand.
Die Eigentumsfrage wurde diskutiert, die Türen ausgehängt, die
Antennen standen auf Bewusstseinserweiterung. Die
Wohngemeinschaftsgruppe studierte die Klassiker Marx, Engels,
Lenin, Mao und die Haare wurden immer länger. Es war mitten
im kalten Krieg, täglich stieß man mit dem Kopf gegen die Mauer.
Wir tranken den billigsten Wein, wenn wir Alkohol
tranken, aus einer Zweiliterflasche ohne Gläser. Die Flasche
kreiste wie der Joint, von einem zum anderen.
Das Haus, in dem sich heute mein Atelier befindet, gehört
zum Stadtteil Steglitz. Es ist ein etwas verstaubter und
konturloser Bezirk, südlich vom Zentrum, in dem vornehmlich
Angestellte und Beamte wohnen. Mit der S- Bahn hat
man eine schnelle direkte Anbindung ins Herz der Stadt.
Die einzelnen S- Bahnstationen dorthin heißen
Feuerbachstraße (Benannt nach dem deutschen Maler Anselm
Feuerbach (1829 – 1880),neo-romantischer Spätklassizist, welcher
sich an einem idealisierten Vorbild
der griechisch-römischen Antike orientierte Yorkstraße
(Benannt nach dem preußischen Feldmarschall Hans David
Ludwig Graf Yorck von Wartenburg (1759 – 1830),
preußischer Feldmarschall in den Freiheitskriegen gegen
Napoleon; Potsdamer Platz ( Das neue Zentrum und das alte
aus den 20er Jahren); Unter den Linden, die Flaniermeile
mit den historischen Bauten Oper, Deutsches Historisches Museum,
Humboldt Universität, Cafe Einstein.)
Nächster Stop : Bahnhof Friedrichstraße (Benannt nach dem
preußischen Kurfürsten Friedrich III (1657 -1713).
In meinem Haus in der Lepsiusstraße, (auch hinter diesem Namen
verbirgt sich eine Geistesgröße aus dem 19. Jahrhundert,
Karl Richard Lepsius, Ägyptologe und Sprachforscher), also
in diesem Haus wohnt ein 89 jährige Frau, die mich bittet, sie
hin und wieder zu besuchen. Sie kocht dann ein einfaches
Essen für zwei Personen und erzählt mir aus ihrem Leben.
Täglich geht sie zum Friedhof und weint. Ihr Sohn
hat sich vor 15 Jahren das Leben genommen. Mit Interesse
höre ich ihr zu, wenn sie aus den Jahren der Nazidiktatur
erzählt. Ja, sie habe damals alles mitgemacht, erzählt sie immer
wieder, aber nie gewusst, dass es KZ gegeben hat.
Mein Hauswart heißt Hussein. Alle meinen, er sei ein Türke.
Er bezeichnet sich als Grieche und stammt aus einem
kleinen Ort, nahe der türkischen Grenze. Seine Wohnung
befindet sich im Souterrain und mit der deutschen Sprache
hat er große Schwierigkeiten, obwohl er schon seit dreißig
Jahren in Deutschland lebt. Seine bescheidene Rente reicht
kaum zum Überleben. Wild mit den Armen gestikulierend lädt
er mich großzügig zu einem Bier mit einer Auswahl Bonbons
ein, sobald er mich sieht. Wir verstehen uns gut. Er besitzt einen
Schlüssel für mein Atelier und hütet das Haus, wenn ich unterwegs bin.
Direkt unter mir wohnt ein Ehepaar, mit dem ich keinen Kontakt
bekomme. Während meiner Kurzreise nach Majdanek und
Auschwitz drang dieser Nachbar in meine Wohnung ein,
weil Feuchtigkeit in seine Wohnung durch die Wände sickerte.
Angeblich kam der Schaden aus meiner Wohnung.
Ein junger Grieche, der für einige Wochen dank seines
Erasmusstipendium bei mir zu Gast war, öffnete die Türe.
Nach meiner Rückkehr versuchte ich mir den Schaden
in der Wohnung des Nachbarn anzusehen, durfte die
Wohnung aber nicht betreten.
Herr K. beschimpfte mich und wünschte mir die „Krätze an den Hals“,
weil ich “Terroristen vom Balkan massenweise bei mir übernachten lasse“.
Mein griechischer Gast, groß und mit pechschwarzen
Haaren, hatte gerade seine deutsche Freundin zu Besuch.
Sicherlich war das Herrn K. ein Dorn im Auge,
beziehungsweise, dieser Anblick verwirrte ihn, hatte
er doch vor einem Jahr ein Herz von einem 22jährigen
verunglücktem Motorradfahrer transplantiert bekommen.
Ich habe Paolo gebeten, sich von diesem Nachbarn fernzuhalten.
In einigen Tagen ist sein Sprachkurs zu Ende. Er zieht dann
mit seiner Freundin in eine WG, am Prenzlauer Berg. Paolo
hat seinem Vater von mir erzählt. Er ist genauso alt wie ich
und soll ein aktiver Gegner von Franco gewesen sein.
Jetzt kümmert er sich ausschließlich um seinen Weinkeller.
Irgendwann will sein Vater mich besuchen, wenn er
nach Berlin kommt, um zu sehen, was sein Sohn mitten
in Berlin so treibt. Er ist herzlich willkommen.
Inzwischen weiß ich auch, was ein guter Spanier ist.
Den Bonus gibt es ohne Ende, vor allem für Europäer, die wir lieben: Italiener, Spanier etc, und US-Amerikaner.
E.V.