vonErnst Volland 23.10.2006

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

Mehr über diesen Blog

 

 

 

Horn

 

Der Bahnsteig S- Bahn Yorkstraße ist leer. Es ist vier Uhr nachmittags, von der S- Bahn sind die Rückleuchten deutlich zu sehen. Der Zug wird kleiner und kleiner. Neue Fahrgäste steigen die steile Treppe von den Yorkbrücken hinauf. Es ist die steilste Treppe im ganzen S- Bahn Netz und kein Fahrstuhl zur Verfügung.

Auf dem hellen Bahnsteig steht ein Kiosk mit zwei Plastikstehtischen, die niemand benutzt. Eine hohe Reklamewand teilt den Bahnsteig in zwei Hälften.

Ausstellung Rebecca Horn steht auf einem verglasten A0 Plakat. Die Abbildung zeigt ein schmales Sprühgerät, das schwarze Farbe in Schlangenlinien auf einen Wandfläche projiziert.

Die schwarze Farbe tropft von den breiten Streifen, die willkürlich über das Blatt verteilt sind.

Fachleute sprechen über diese Konstruktion von einer Skulptur, einer Plastik oder von einem künstlerischen Objekt. Das Plakat und das abgebildete Motiv sind nicht sofort zu erkennen und so haften die Augen auf dem fast leeren Bahnsteig auf dem Horn Plakat, auf den beiden kleinen Trichtern, in denen sich Farbe befindet und auf dem Verbindungsröhrchen, das zum Sprühgerät führt. Was sollen nur die leicht geschwungenen Schleifen bedeuten, die dieses Gerät, wie ein kreisender Rasensprenger gebaut, von sich schleudert? Was beim Sprenger von Nutzen ist, wird hier wird affenartig, motorisch, mit immer mehr schwarze Farbe versprenkelt.

Die müde hin und her schweifenden Gedanken über das großformatige Plakat und seinem

banalen Motiv werden unterbrochen.

Hinter der Reklamewand ist eine Stimme zu hören. Eine Person auf dem Bahnsteig singt. Sie tritt hinter der Wand hervor und geht ruhig auf und ab, ohne den Gesang zu unterbrechen. Es ist ein hoher kehliger Ton, die Worte sind nicht zu verstehen. Der junge farbige und sehr große Mann hat die langen Hosenbeine bis zu den Knien gekrempelt, auf dem Rücken trägt er einen fast weißen Leinenbeutel. Auf dem Kopf zeigen dicke feste Haarsträhnen in einer Länge von etwa  zehn Zentimetern in alle Himmelsrichtungen.

Der junge Mann hat eine  schlanke Gestalt und ein schönes Gesicht. Diese Schönheit entspricht nicht dem mitteleuropäischen Ideal, es ist archaisch, ungestüm, sanft und schön zugleich.

Niemand auf dem Bahnsteig sagt ein Wort, die Sonne steht schon tief und der junge Farbige wandert hin und her, ohne seinen Gesang zu unterbrechen. Die Stimme imaginiert einen fiktiven ruhigen Platz der Kontemplation, ähnelt dem Gurren eines seltenen bunten Vogels  und lässt für Sekunden das Klischee  von Wildnis und Ferne aufscheinen. Doch das Instrument der Stimme zerstreut die Vorstellung des Klischees und setzt dafür eine doppelte Sehnsucht, die Sehnsucht der Hörenden und die Sehnsucht des Singenden.

Jetzt fährt auf der Seite des jungen Mannes der Zug ein und die Stimme verstummt hinter der klackenden Tür.

Zurück bleibt der Blick auf das Rebecca Horn Plakat. Dort ist immer noch das Sprühgerät zu sehen, das schwarze Schlieren auf eine weiße Wand wirft, ohne jedes Ziel und ohne jede Bedeutung.

 

 

 

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/vollandsblog/2006/10/23/horn/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert