vonErnst Volland 16.11.2006

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Monoreduktor

 

Beim Spiel Deutschland – Schweden muss es passiert sein.

Gemerkt habe ich es erst am nächsten Tag, auf dem Land, bei

einer Freundin. Das Fußballweltmeisterspiel zwischen den

beiden Ländern sah ich im Rat/Pack auf einer Großleinwand.

Das Rat/ Pack liegt direkt neben dem York – Schlösschen in Kreuzberg.

Der Wirt trägt eine Kassenbrille, einen Pferdeschwanz,

leicht angegraut und einen Fünftagebart. Typ: „Ich mag dich,

ich bin wie du. Ich bin Pfälzer, wo kommscht denn du her“.

Erst beim dritten Besuch  entdeckt man den Wirt in Öl

gemalt an der Wand, gleich neben den steppenden

Entertainern Sinatra, Davis Junior und Dean Martin.

Man sagt, Dieter ist der Sinatra – Experte in Berlin.

Ich sitze mit Freund und Freundin auf dem Bürgersteig, der mit

Tischen, Bänken und Stühlen okkupiert ist, denn der eigentliche

Gastraum ist für eine Großleinwand nicht geeignet, man hätte

dort das Gefühl, in der ersten Reihe zu sitzen, allerdings wie im

Kino, so winzig ist der Platz in der Kneipe. Schon eine halbe

Stunde vor Anpfiff ist kein Plätzchen mehr frei.

Der Freund erweist sich als ein kluger Freund. Er hat für mich

einen kleinen Flecken reservieren können.

Dunkles Hefeweizen rinnt durch meine Kehle, die Stimmung

um mich herum ist aufgekratzt und heiter. Der Fußball in diesen

Tagen setzt eine ungewohnte Lockerheit und Fröhlichkeit

bei vielen Menschen frei und diese spürt man unmittelbar auch hier.

Schon nach fünf Minuten fällt das erste Tor für Deutschland und alle

springen auf, umarmen sich, jubeln. Ich springe und juble mit.

Kurz drauf fällt das zweite Tor und jetzt scheinen die Menschen

um mich herum noch höher zu springen und sich herziger zu umarmen.

Dabei muss ich meinen Monoreduktor verloren haben, ohne es zu merken.

Ich hatte ihn schon einige Male verloren, jedoch immer wieder gefunden. 

Einmal sogar im Abfalleimer und ich konnte nicht mehr rekonstruieren,

wie er dort hingekommen ist.  

Als ich ihn zum ersten Mal im Mund anpasste, empfand ich

ihn sofort als einen Fremdkörper. Er ist nichts anderes als ein

künstliches Zwei-Zähne-Gebiss, einen Zentimeter lang und

einen halben Zentimeter hoch.

Die beiden Zähne sitzen auf einer fleischfarbenen

Kunststofflasche, die mit Hilfe  eines kleinen Scharniers

am nächsten Zahn angekoppelt wird. Beim täglichen

Zähneputzen entfernt man den Monoreduktor, nachts

bleibt er nicht im Mund. Ein Monoreduktor ist nicht billig.

Er kostet etwa 1000 Euro. Aber das war nicht das eigentliche Problem.

Ein Monoreduktor ist wie rascher Haarausfall oder Krampfadern.

Er macht dich mental alt.

Vor ein paar Tagen kam ich mit einem Fotografen ins Gespräch,

der mir von einem eigenartigen Croissent berichtete.

In diesem Croissent befanden sich plötzlich drei Zähne,

hübsch aneinandergereiht. Da er schon wieder unterwegs war,

nützte eine Beschwerde nichts.

Er säuberte die Zähne, steckte sie in die Tasche und wollte sie

einer befreundeten Zahnärztin zeigen. Beim Abendessen bemerkte er,

dass es sich um seine eigenen Zähne handelte.

Ich rief anonym im Rat/Pack an und fragte, ob ein Teil eines

Gebisses dort gefunden worden sei. Der Wirt war am Apparat

und da ich etwas undeutlich gesprochen hatte, musste ich meine

Frage wiederholen. Nach einer kurzen Pause hörte ich den Wirt

in den Gastraum rufen und dabei bemerkte ich, ohne es zu sehen,

ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht:

„Hat jemand e Stückle eines Gebisses gefunne?“ Die Antwort war

ein lautes Gelächter mit Kommentaren, die ich nicht deuten konnte.

„Ne, iss hier nischst gefunne worde, tut mit leid. Tschüss.“

Am nächsten Tag kam ich persönlich ins Rat/Pack, bat den

Wirt geheimnisvoll vor die Tür und enthüllte die Anonymität

des Monoreduktorinhabers.

„Hätschte doch gleich sagge kööne, dasch du desch bischt. Nee, hatt die

Omma mit dem Staubsauger weggeschluckt, finnschte nie widder,

tut mir leid. Brauche ma garnisch zu suche.“

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