vonErnst Volland 09.06.2011

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Jewgeni Ananjewitsch Chaldej (1917–1997) hat als Kriegsreporter Bilder geschaffen, die weltberühmt wurden. Der Rotarmist, der die Fahne auf dem Berliner Reichstag hisst, gehört zu diesen Motiven. Der TASS-Fotograf war von 1941 bis 1945 an der Front, dokumentierte den Vormarsch der Sowjetarmee und die Eroberung Berlins, war Bildberichterstatter der Potsdamer Konferenz und der Nürnberger Prozesse. Doch er geriet in Vergessenheit. Erst kurz vor seinem Tode wurde Chaldej wiederentdeckt und gilt inzwischen weltweit als einer der bedeutendsten Fotografen des 20.Jahrhunderts. Kürzlich wurde sein Kriegstagebuch gefunden, das jetzt veröffentlicht wird. Hier die ersten Seiten. Es beginnt am 22. Juni 1941, dem Tag des Einmarsches der Deutschen in die Sowjetunion.

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…In der Nacht zum 22 Juni

Um 1 Uhr nachts kehrte ich von der Arbeit zurück. Der seit dem Morgen andauernde, warme Sommerregen durchnässte noch immer die asphaltierten Moskauer Straßen, die das helle Licht der Laternen reflektierten. Auf dem Izwestia-Gebäude1 luden die leuchtenden Reklametafeln die Bewohner der Hauptstadt ins Kino, zu Theateraufführungen, und in Geschäfte ein. Ich näherte mich meinem Haus und ahnte natürlich nicht, dass die Lichter auf den Straßen Moskaus zum letzten Mal brannten.
Im Osten des Landes begann der Morgen eines arbeitsfreien Tages: Die Leute bemühten sich ihren freien Tag, den 22. Juni, auf ihre Art zu genießen.
Im Westen lagen die Nachtwachen der sowjetischen Lauerposten in trügerischer Stille und ahnten nicht, dass sich dort, in den zu Deutschland gehörenden Wäldern, Schreckliches zusammenbraute.

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…Ein schöner Morgen und ein mieser Tag…

Der gewöhnliche Morgen, ein schöner Morgen, eines Sommertages. Es hatte geregnet, draußen war es frisch. Es war ein arbeitsfreier Sonntag und auf den Straßen war nichts von der alltäglichen Moskauer Hektik.
Ich saß im engen Kreis einer mir nahestehenden Familie und trank Tee, wir hatten ein schönes, friedliches Frühstück, mit Unterhaltungen und ein wenig Hektik: Heute sollte die Gastgeberin zu ihrer Datscha fahren – ein Ereignis. In der neusten Ausgabe der Prawda2 wurde berichtet, dass die Deutschen die Engländer angreifen und die zurückschlagen. Auf den Seiten der Zeitung kamen alle Abteilungen der Redaktion zu Wort und hielten die Leser über das Geschehen im Lande auf dem Laufenden. Das Ereignis des Tages, das die neue Saison einleitete war die Eröffnung eines neuen Stadions in Kiew. Wir saßen herum und diskutierten…
Ein gewöhnliches Telefonläuten klingelte irgendwie ganz besonders – ich wurde um zwölf in die Redaktion bestellt. Das stimmte mich nachdenklich. Nach fünf Minuten wurde auch der Gastgeber zur Fabrik gerufen. Wir begriffen, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Niemand wagte es auszusprechen. Die deutsche Botschaft, in der Nähe meines Hauses, wurde verstärkt bewacht. Alles war sofort klar. Um 11 Uhr 45 verkündete ein Radiosprecher die Ansprache von Genosse Molotow3 – die Beunruhigung stieg.

Die Bevölkerung des Landes versammelte sich bei den Lautsprechern – Ich stand in der Nikol’skaja Straße und schaute auf den Roten Platz, auf den Kreml,

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hörte der aufgebrachten Rede des Genossen Molotow zu und spürte wie die Kälte sich in meinen ganzen Körper ausbreitete, danach hörte ich nichts mehr. Ich merkte mir die ersten Worte und Zeilen: Unsere Städte Kiew, Sewastopol’ und Kaunas werden bombardiert…
Hätte sich das jemand gestern vorstellen können?
Auf den Straßen aus Minsk gingen Menschen, die ihre Häuser verlassen mussten und von Bomben geweckt wurden, Menschen, die bereits ihre Frauen, Männer, Kinder und Alten verloren hatten, Menschen in Unterwäsche, die es nicht mehr geschafft hatten ihre Kleider mitzunehmen… Näher zur Grenze, wo gestern noch die Lauerposten lagen, floss Blut in Strömen; es war der Beginn der großen Schlachten zwischen den Russen und den Deutschen. Der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Ich startete die Aufnahmen der Versammlung auf dem Serp-i-Molot-Stahlwerk.. Die Stahlarbeiter schworen, Hitler und seinen Freunden die Kehlen mit flüssigem Stahl zu füllen. Bin auf dem Rückweg von den Aufnahmen in Moskau – Es herrscht keine große Panik, sie heben Geld von Sparbüchern ab und kaufen Lebensmittel. Männer mir Rucksäcken sind zu sehen, junge Frauen lassen sich als Sanitäterinnen registrieren. Krieg ist eben Krieg.

Nacht…Nicht einmal jemand von den Alteingesessenen Moskaus, kennt sie so dunkel und finster. Gestern erst prangte auf dem Puschkin-Platz eine Leuchtreklame, und jetzt, sich blindlings fortbewegend, eilen Moto(risiert)-technisch ausgerüstete Truppen, den (Unsrigen) im Westen, zu Hilfe. Die Flakartilleristen stellen ihre Geschütze auf. Zuhause weint die Gastgeberin – ihr Sohn ist an der Front – man schlief nicht in dieser Nacht in vielen Häusern vieler Städte.

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Es vergingen drei Tage blutiger Kämpfe. In Lageberichten wird angegeben, dass unsere Truppen, sich dem Andrang der Deutschen hartnäckig widersetzend, auf neue Positionen zurückziehen. Nachts um drei weckte das Radio die Bewohner Moskaus: Luftalarm. Ich zog den Vorhang vom Fenster beiseite: Frauen in Mänteln, die in Eile über Unterwäsche gestreift waren, flohen, ihre Kinder an sich drückend, in Deckung. Die Alten bemühten sich, nicht zurückzufallen und flohen ebenfalls in Bunker, die noch nie (zuvor) heftigen Bombardierungen ausgesetzt waren. Mir fielen die Filmberichte „aus Spanien“ ein.

Die Mobilisierung vergrößerte sich jeden Tag – lebendige Ströme junger Männer gingen Richtung Westen. Ihnen hinter her liefen Frauen, Kinder, Mütter und Väter, die womöglich zum letzten Mal einen ihnen nahestehenden Menschen sahen. Es herrschte Krieg, der gerechte Krieg des sowjetischen Volkes und alte Mütter und Väter riefen ihren Kindern tränenerstickt nach: „Schlagt sie, vernichtet sie, zerquetscht sie!“ Und so blieben ihre Blicke an ihrem Sohn hängen, der in einer Menschenmenge von Tausenden zu Eisenbahnwagons lief. Es vergingen die Tage, man fing damit an, Redaktionsangestellte zu mobilisieren. Auch ich erhielt einen Bescheid. Ich zog meine Grenzsoldatenuniform an und ging zum Mobilisierungspunkt: Ich erhielt Aufschub. Gleich darauf wurde ich wiederholt beordert und wieder nach Hause geschickt. Doch die Tage vergingen, unsere Truppen zogen sich zur alten Grenze in Weißrussland zurück, die Unruhe wuchs.

Am Morgen des dritten Juli, verkündet die beunruhigte Stimme des Radiosprechers: Am Mikrofon I.W. Stalin. Ich lauschte der Ansprache atemlos, wie alle. Ich geriet in Aufregung, danach verstummte ich und fragte mich: Wie ist das bloß möglich?


22. Juni 1941, 12 Uhr. Moskauer Bürger hören über Lautsprecher die Rede Molotows. Der sowj. Aussenminister informiert die Bevölkerung über den am Morgen stattgefundenen Angriff der Deutschen Wehrmacht.


Seiten aus dem handschriftlichen Tagebuch Chaldej’s

Jewgeni Chaldej, Heinz Krimmer (Hrsg.), Ernst Volland (Hrsg.)
Kriegstagebuch
ISBN 978-3-360-02113-7
224 Seiten
21,5 x 28,5 cm
mit Fotos
Das Neue Berlin

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