vonErnst Volland 18.11.2013

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Die beiden Schwestern hatten sich zehn Jahre nicht mehr gesehen und dennoch kam der Tod plötzlich. Theresa hielt lange den Hörer in der Hand. Irena war vor zwölf Stunden gestorben.
Eine Nachbarin hatte am Telefon ihr Beileid ausgesprochen und in knappen Worten das Ende geschildert. Es war früh am Morgen. Therersa wartete eine halbe Stunde und berichtete dann ihrem Mann beim Frühstück vom Tod ihrer Schwester.
„Ich muss heute noch fahren, um die Beerdigung und alles Notwendige zu organisieren,“ sagte sie und ihr Mann schwieg. Nach dem Frühstück stieg er ins Auto und fuhr zur Arbeit.

Theresa nahm den Zug und dann einen Bus, der sie über die hügelige schwäbische Alp in den kleinen Ort führte, in dem Irena seid ihrer Verlobung lebte. Sie hatte niemals geheiratet und die Familie und Nachbarn konnten nicht verstehen, warum sie niemals heiratete, da Irena in ihren Augen eine sehr schöne Frau war. Bis ins hohe Alter drehte sich der eine oder andere Mann nach ihr um. Theresa dagegen war eine Frau, die erst auf den dritten Blick wirkte. Sie heiratete früh und zog fünf Kinder auf, die inzwischen alle das Haus verlassen hatten und in anderen Städten und Ländern lebten. Theresa hatte sich eine Liste aller Enkelkinder aufgeschrieben, da sie sich die einundzwanzig Namen der Enkel nicht merken konnte. Alle drei Jahre kam die Großfamilie zusammen, bis auf Irena, die am nächsten wohnte doch niemals an dieser Versammlung teilnahm. An Hand der Liste stellte Theresa beim Positionieren zum Familienfoto die Vollständigkeit der Familie fest.

Die Nachbarin gab ihr den Schlüssel zum Haus und sie öffnete die Tür. Der Geruch verschiedener Öle und Duftwasser strömte ihr entgegen und sie blieb im kleinen Flur stehen.
Lange hatte sie das Gemisch feinster Düfte nicht mehr wahrgenommen und im gleichen Augenblick stand ihre Schwester wie leibhaftig vor ihr. In den Zimmern lagen die Düfte wie Mehltau auf Tischen und Stühlen. Rosenduft mit einer Prise Aprikose im Wohnzimmer, Minze und Weihrauch im Schlafzimmer. Sie setzte sich in jedem Zimmer auf einen Stuhl und atmete tief durch. Dann machte sie sich an die Arbeit, sortierte und trennte die Sachen, die ihre Familie noch gebrauchen konnte oder die zu einer Hilfsorganisation gehen sollten.
Auf der Kommode stand neben einer leeren Vase ein Foto, auf dem sie mit ihrer Schwester abgebildet war, 16 und 18 Jahre alt. Irena, die Jüngere lacht in die Kamera, das lange offene blonde Haar weht im Wind, Theresa hat ihre dunkelbraunen Haare zu einem Zopf gebunden.
Sie posieren vor einem Opel Admiral, einer Limousine aus den 50er Jahren.
Theresa hatte vor, bis nach der Beerdigung zu bleiben. Man sah ihr die bald 80 Jahre nicht an. Sie besaß noch physische Kraft, nur ihre Haut bekam mit der Zeit Falten. Im Gesicht konnte sie ihr Alter nicht verbergen. Sie blinzelte ein wenig, wenn sie in die Ferne sah und ihr Lächeln hatte etwas Zeitloses, trotz der vielen Runzeln und Falten die auf ihrem Gesicht lagen.
Am Abend blätterte sie in den persönlichen Akten der Schwester, fand Briefe einer Jugendliebe und arbeitete sich durch die Konten der letzten Jahre. Ihre Schwester Irena lebte immer sparsam. Dann sah sie Kontobewegungen größerer Summen. Sie freute sich über die Aktivitäten, da sie die Summen in Verbindung brachte mit langen Reisen auf großen Schiffen und in ferne Länder. Doch warum hat ihre Schwester niemals davon erzählt? Eine Reise von 12 000 Euro schien ihr auch sehr teuer und sie schaute sich die Kontobewegung genauer an. Der Betrag ging an einen Prof. Dr. Pisiani in Stuttgart. Auch die anderen hohen Beträge wurden an diesen Professor überwiesen. Bedächtig schloss sie in einer langsamen Bewegung die Glastür des Schrankes, in dem die Ordner sorgfältig aufgereiht standen und ging ins Bett. Sie konnte nicht sofort einschlafen, die Umgebung war ihr nicht vertraut und der Geist ihrer Schwester schien anwesend zu sein.
Nach einer halben Stunde stand sie wieder auf und verglich die Konten mit den entsprechenden Aufträgen und Firmenbriefen. Sei hatte gehofft, dass sich ein stattlicher Betrag finden würde, mit dem sie die Beerdigungskosten begleichen konnte, aber die Konten waren leer.
Langsam nahm sie ihre Brille aus dem Etui und legte einen Kontoauszug neben den entsprechenden Auftrag.
8000 Euro gingen an Professor Pisiani, Privatklinik Hosta Bella, Stuttgart. Die Brille verrutschte auf dem Höcker ihrer Nase, was sie nicht merkte, denn jetzt sah sie die Leistung für die hohe Summe auf dem Papier.
„Einmal Fett absaugen im Hüftbereich,“ murmelte sie, „4000 Euro, Lippen spritzen unten 2000 Euro, Oberlippe 2000.“ Die Rechnung war vor einem Monat ausgestellt, also vier Wochen vor ihrem Tod.
Theresa legte das Firmenpapier auf den Tisch und nahm die Brille ab. Warum ließ sich ihre 78 Jahre alte Schwester den Hüftspeck absaugen? Sie fand keine Antwort. Dann ging sie die anderen Rechnungen durch. Alle waren von Professor Pisiani. Facelifting, Brusterweiterung, Fettentfernung an fast allen Körperteilen. Insgesamt rechnete sie über die letzten beiden Jahre einen Gesamtbetrag von 147 000 Euro zusammen.
Und das Ergebnis lag jetzt in der Leichenhalle und sollte morgen Nachmittag begraben
werden. Sie hatte bereits telefonisch einen Sarg beim einzigen Bestattungsinstitut der Gegend im Ort bestellt und den Pfarrer mit der Zeremonie beauftragt.
Am offenen Grab standen nur wenige Leute. Theresa warf ein paar Blumen auf den schweren Eichensarg, dann etwas Erde, bezahlte alle Rechnungen und fuhr nach Hause.
Ein paar Monate später las sie in der regionalen Presse von einer Bestattungsfirma, die teure Eichensärge nach der Beerdigung nachts ausgrub und wiederverwendete. Zuerst verstand sie diese Information nicht, doch dann wurde ihr klar, dass ihre Schwester in einer einfachen Holzbox lag, über den ein wertvoller Eichendeckel gestülpt wurde. Es war die Firma, die auch ihre Schwester beerdigte. Theresa fing an, darüber zu spekulieren, wer etwas mit dem Körper ihrer Schwester anfangen könnte, doch dann verscheuchte sie diese Gedanken und bügelte zuerst einen Ärmel des blauweiß gestreiften Hemdes ihres Mannes dann den zweiten, bevor sie sich an den Kragen machte.

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