vonErnst Volland 05.05.2014

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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RIAS

Es ist Ende April und ich fahre durch die lange Handjery Straße mit den prächtig blühenden Kastanienbäumen bis zum Volkspark, um im ehemaligen RIAS Gebäude das Monatsprogramm
des Deutschlandfunks abzuholen. Der Stapel mit den kostenlosen Broschüren befindet sich gleich neben dem Pförtner im Eingangsbereich in einem Regal.
Gestern und vorgestern war ich bereits hier, denn die fertig gedruckten Hefte liegen meist immer eine knappe Woche vor dem 1. des Monats aus. Kein Heft war zu sehen.
Die beiden Pförtner sitzen hinter dicken doppelten Glasscheiben, ähnlich an der Kasse großer Banken. Sie sind trotz Mikrofon nur undeutlich zu verstehen und man selbst steht vor der Glaswand und meint schreien zu müssen. Das Regal für die neue Ausgabe ist leer.
„Haben Sie den Mai schon?“ frage ich.
„Der Mai ist soeben geliefert worden,“ höre ich von der piepsenden Stimme durch die Glasscheiben. Heute ist nur ein Pförtner hinter Glas.
„Das ist ja prima, da habe ich ja Glück gehabt.“
Das große Paket mit der Maiausgabe steht direkt neben dem Pförtner.
„Ich kann ihnen kein Exemplar geben, die müssen erst nach oben.“
„Sie brauchen doch nur ein Heft aus der Kiste zu ziehen und schon bin ich wieder weg.“
Der Pförtner, etwa vierzig Jahre alt, korpulent, ohne Jacke, Schlips, weißes Hemd, schwarze Hose.
„Die müssen erst nach oben.“
Eine Frau betritt von hinten den Pförtnerraum.
Ich stehe ganz nah an der Scheibe höre, wie sie fragt: „Was willn der?“
„Der will schon ein Exemplar haben, aber die waren noch nicht oben.“
Die Frau, kurze blonde Haare, um die Fünfzig, geht zur Kiste, holt ein Exemplar heraus, legt es dem Pförtner in die Hand und sagt.
„Kann er schon haben, muss nicht nach oben.“
Der Pförtner drückt das Heft in die Schale, durch die Dokumente wie Personalausweise geschoben werden. Ich ziehe das Heft unter der Glaskante heraus.
„ Früher ging die Mauer direkt hier beim RIAS entlang“, sage ich zum Pförtner
„Nein, das ist nicht richtig, die Mauer ging hier nicht lang.“
„Doch doch, ich bin seit 1968 in Berlin und ich weiß ganz genau, dass die Mauer direkt hier vor dem Haus entlang lief, bis zum Schöneberger Rathaus.“
„Aber der Kennedy der hat doch damals seine Rede gehalten auf dem Rathaus Schöneberg.“
„Das hat er, unbestritten. Die Mauer lief direkt am Rathaus Schöneberg entlang. Ich habe doch jeden Sonntag um 12 Uhr die Freiheitsglocke gehört, auf der anderen Seite der Mauer.“
Der Pförtner antwortet nicht.
„Jedenfalls vielen Dank für das Heft. Ich komme wieder.“

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