vonErnst Volland 07.03.2016

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Anlässlich der Verleihung des Großen Bären, Preis für Satire und verschärfte Kommunikation am 27. Februar 2016 an Henning Venske, hielt Thomas Ebermann die folgende Rede.

1982 veröffentlicht Henning in „pardon“ ein angemessen zorniges, notwendig unausgewogenes Pamphlet gegen all jene von ihm namentlich genannten, die durch ihre Abwesenheit von der Beerdigung Peter Weiß‘ diese zu einer trostlosen Demonstration machten, wie man umspringt mit einem, der nach Zeiten großer Erfolge nicht mehr angesagt ist, weg vom Fenster, abgemustert.
Er nennt die demonstrativ Abwesenden „vollgefressene Tantiemen-Schlucker, die sich gegenseitig ihre Laudationes vorlügen“.
Ich halte heute zum ersten Mal eine Lobrede – und die dann auch noch auf einen Lobreden-Schleimerei-Durchschauer.
Ein wenig schüchtert das schon ein.
Außerdem, wie Sie sicher wissen, kann Henning ganz schön streng sein. Ein wirklich hässliches, alles, was Sprache sein könnte und schon lange nicht mehr ist verstümmelndes Wort – und er schaltet auf Funkstille.
Ich zitiere ihn:“ Mit Angehörigen der schreibenden Zunft, die das Wort ‚schlechthin‘ verwenden, korrespondiere ich nicht.“
Sollte mir heute eine Metapher verrutschen oder sonst etwas dich verärgern, habe ich einen Plan, wie wir uns versöhnen: Ich lade dich zum Essen ein und koche selbst; Borschtsch mit ganz viel Rote Beete, dazu serviere ich ein in Bayern gebrautes Pils; zum Nachtisch gibt es Himbeereis und später gehen wir dann noch Tanzen.
(Das war ein Brüller für Insider.)
Ich werde nun Henning entlang eines Duzends Haltungen und Positionen portraitieren.

Erstens ist Henning zuverlässig.
Seine Satire – wie er schreibt – zielt immer von links unten nach rechts oben.
Nie ist er dabei, wenn es mal wieder gegen die ohnehin Gebeutelten geht. Wenn sie als Idioten karikiert werden, wenn Comedy nur reproduziert, was die Leitartikler schreiben, diese moralische Entrüstung, dass die sogenannte Unterschicht einfach nicht nach den Regeln der gesunden Ernährung speist und trinkt, sich auch sonst nicht fit hält, wie man es von einer Reservearmee des Arbeitsmarkts verlangen kann, statt dessen schmarotzt und sich nicht einmal die Phoenix – Runde anschaut.
Es geht nicht darum, die derart Denunzierten im Gegenentwurf großartig zu finden (und sich womöglich mit proletarischer Mütze und Hafenarbeiter – Hemd auf die Bühne zu stellen und seine Verbundenheit mit dem Proletariat dadurch zu unterstreichen, dass man schlecht Gitarre spielt); es geht vielmehr um die fundamentale Frage, wem anzulasten ist, dass die Menschen so sind, wie sie sind.

„Der Herrschaft passt es ins Konzept, wenn das, was sie aus den Massen gemacht hat und wozu sie die Massen drillt, aufs Schuldkonto der Massen verbucht würde“ schreibt Adorno und ich verspreche: das ist das einzige Mal, dass ich ihn zitiere.
Menschenfreund – und Henning ist wie alle Satiriker einer – ist nur, wer sie überfordert; nicht nur unterhält oder zerstreut.
Zweitens ist Henning kein Renegat.
Diese leiden nach seiner Diagnose an einem „heftigen Selbstreinigungszwang“, was kein Schaden ist, den man auf die leichte Schulter nehmen sollte.
Frei von dieser Macke vermag Henning zu schildern, dass es Zeiten gab, in denen er vom Kommunistischen Bund und dessen Erkenntnissen profitiert hat (wie wir von ihm) und er muss seine Erschütterung über den Tod von Ulrike Meinhof weder verschweigen, noch in einem Meer von Beteuerungen, immer ein Feind jedweden bewaffneten Kampfes gewesen zu sein, ertränken.
Damit ist er entschiedener Antipode der vielleicht wirkmächtigsten Säule bürgerlicher Ideologie, wonach das Siegreiche mit seinem Sieg seine Richtigkeit und das Untergegangene mit seiner Niederlage seine Falschheit beweist.
Wer an so etwas nicht glaubt, kann an jedem 3. Oktober nicht mitfeiern, denn:
„Wenn die Wiedervereinigung vollzogen ist, dann steht fest: der Zweite Weltkrieg wurde vergeblich geführt, und wenn die Mauer … verschwunden ist, dann ist auch das letzte Zeichen für den verlorenen Krieg verschwunden“.
Darüber hat sich Cora Stefan so echauffiert, dass sie einen derben Verriss über Hennings Buch schreiben musste. Ihr Weg führte sie vom sogenannten „linksradikalen Blasorchester“ über den „Pflasterstrand“ zum Hessischen Rundfunk, zum „Spiegel“, dann zur „Welt“ und nun zu Broders „Achse des Guten“, wo sie ungefähr so regelmäßig schreibt, wie dort Thilo Sarrazin seinen Dreck absondert.
Wer von solchen Charakteren angepisst wird, kann kein ganz schlechter Mensch sein.
Der Ekel vor’m „heftigen Selbstreinigungszwang“ hat übrigens nichts gemein mit irgendeinem bräsig – selbstgefälligen „Das habe ich doch schon immer gesagt“.
Die legitimste perspektive, aus der wir unsere Unzulänglichkeiten und Fehler reflektieren, scheint mir die Frage, wann wir (in unserem Denken und unserem Alltag) dem Bestehenden noch zu sehr verhaftet waren – und eben nicht die Belästigung, wann auch wir uns endlich mit ihm versöhnen.
Wer nur die beeindruckende Schilderung deiner Knastbesuche bei Fritz Teufel, deinem Freund, ernsthaft zur Kenntnis nimmt, dem ist diese Versöhnung verbaut.

Drittens ist Henning nicht tolerant.
Er hat nämlich – Mitte der 60er Jahre – Herbert Marcuses großes Essay – „Repressive Toleranz“ – gelesen, und die Kernbotschaft so für sich übersetzt: “Toleranz ist nur eine bequeme Ausrede für Leute, die sich nicht zwischen Ja und Nein entscheiden können“.
Das sind diese Menschen, ergänze ich, die im Fernsehen einem reaktionären Drecksack zuhören können und dabei denken: wie schön, dass es Meinungsfreiheit gibt.
Weil Henning nicht tolerant ist, kann er so angemessen bedauern, dass Joschka Fischer, der Mitverantwortliche für den Jugoslawienkrieg, „lediglich mit einem an seinem Kopf platzenden Farbbeutel gemaßregelt wurde“.
Wenn Henning solche Sätze auf der Bühne spricht, verzichtet er übrigens auf jede Attitüde des Augenzwinkerns oder der Selbstironie, in denen ja immer die Botschaft der Selbstverharmlosung steckt.
Außerdem verficht Marcuse in besagter Schrift bekanntlich „das Naturrecht“ der Drangsalierten „außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich heraus gestellt haben“.

Damit musste er bei Henning auf offene Ohren stoßen, hatte der doch – auf seinem schrecklich entbehrungsreichen Weg von Österreich nach Kiel im Sommer 45 – als Siebenjähriger (und also ohne jede philosophische Ableitung) den hartherzigen Spießern Wurst, Schinken und einiges mehr geklaut. Er wird deshalb, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, Menschen in Not – also zum Beispiel Flüchtlinge – niemals mit Aufforderungen wie Ehrlichkeit und Gesetzestreue belästigen.
Viertens ist Henning nicht larmoyant.
Suspendierungen, befristete Mikrophon-Verbote, fristlose Entlassungen und sogar Hausverbote mit richtigen Steckbriefen für die Pförtner des NDR, damit er nicht durchschlüpft, pflastern seinen Weg.
Und selbstverständlich, wenn er mal einen Prozess gewonnen hatte und das Hausverbot aufgehoben werden musste, war die Zahl der festangestellten Redakteure groß, die ihr berufliches Vorankommen bedenkend und ihrem Lebensmotto, wonach man sich nie zu weit aus dem Fenster lehnen darf, frönend, dann doch beschlossen, ihn nicht zu besetzen.
Wenn die bürokratische Obrigkeit sich zur Begründung veranlasst sah, wie der Intendant des Hessischen Rundfunks, entstanden die anmutigen Perlen, die bei der Vermeidung des Wortes Zensur eben anfallen.

Du hättest, schreibt er, den „Freiraum, der für Satire notwendig“ ist, wiederholt „erheblich überschritten“ und hättest „offensichtlich kein Verständnis für das echte Wesen von Satire“.
Von ähnlicher Schönheit sind einige juristische Schriftstücke aus den Ermittlungsverfahren und Prozessen, die man dir angehängt hat, mal wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ und mal wegen Schädigung der Geschäftsinteressen der Marke Jägermeister durch „Pardon“.
Nie schildert sich Henning als das naive, ganz und gar unschuldige, von der jeweiligen Repression völlig überraschte Opfer. Ihn hat ja wirklich manchmal der Hafer – also die Lust an der Provokation – gestochen.
Etwa an dem Tag, als Konrad Adenauer per Rheindampfer zu seiner letzten Ruhestätte transportiert wurde und Henning aus eben diesem Anlass im Radio „death of a clown“ auflegte. Und wer Moderator von „Musik aus Studio B“ ist und im Interview die Wahrheit und also sagt, das sei „eine Sendung für Blöde“, den kann die fristlose Entlassung nicht ganz unvorbereitet treffen.
Die Gelassenheit, mit der du das dir Angetane registrierst, zeugt – glaube ich jedenfalls – von deinem Wissen, dass die, die von ihrer Intellektualität leben können, Privilegierte sind – und von deiner Hochachtung vor jenen, die wirklich Unsäglicheres erlebt haben als bloß ein bisschen Karrierestau. Erich Mühsam – den du so besonders verehrst – zum Beispiel.
Fünftens ist Henning für Selbstzensur.
Nach seinen Vorstellungen flüstern sich Besucher manchmal zu – ich habe das wirklich gehört – ‚dem Venske ist aber auch gar nichts heilig‘. Das stimmt, was das Heilige betrifft, denn Henning ist nicht nur ein leidenschaftlicher Kritiker der Institution Kirche, sondern ein Religionskritiker.
Wenn die Leute damit allerdings meinen, der Venske, dieser freche Hund, lege sich keine Beschränkungen auf, gehe einfach auf alles los, dann irren sie.

Henning stellt zum Beispiel fest, dass in jeder Diskussion um den Nahost – Konflikt „immer ein ‚Linker‘ dabei ist, der schon immer Antifaschist war und deswegen gar nicht gegen Juden sein kann, der aber sagt, die Israelis verhielten sich gegenüber den Palästinensern genauso wie die Nazis“.
„Statements dieser Art“ fährt Henning fort, „sind das Peinlichste, was ein Deutscher absondern kann“.
Es gibt einfach zu viele Deutsche, die wohl die Wehrmachtsausstellung besucht haben (oder ‚eigentlich besuchen wollten‘), um damit das Recht auf solche Absonderungen zu erwerben.
Zurück zum O – Ton Venske:“ Viele Leute heute sprechen vom Staat Israel wie ihre Großeltern vom ‚Weltjudentum‘. Doch diesem kleinen Staat der Überlebenden haben wir keine Vorschriften zu machen. Wir nicht“.
Man würde sich viel unbefangener als Angehörigen der Linken bezeichnen, hielten sich alle an dieses Kommando.

Sechstens ist Henning ein Gescheiterter.
Für ihn gilt, was einer seiner großen Satiriker – Ahnen mit den Worten „Ich hatte viel Erfolg und habe nichts erreicht“ bilanziert hat.
Tucholskys Satz kann man – bedenkt man z.B. die über 400 Vorstellungen der beiden Touren mit Jochen Busse und die zahlreichen, gut besuchten Solo – Auftritte – auch ins Präsens setzen. (ich habe viel Erfolg und erreiche nichts.)
Na und?
Henning begründet in einer kurzen Sequenz, dass er sich politisch – philosophisch eher auf der Seite Albert Camus‘ und damit gegen Sartre verortet hat. Wie hoffnungsvoll waren doch die Zeiten, als junge Intellektuelle sich an solchen Fragen abarbeiteten – und das Ausmaß der Regression scheint auf, bedenkt man, dass heute die philosophische Alternative zwischen Sloterdijk und Sloterdijk angesiedelt ist.
Eine Portion Trauer ist in mir, wenn ich an die unvergesslichen Kinderhaus – Konzerte, an das Festival in Scheeßel (ein Hauch von Woodstock erreichte sogar Niedersachsen!) oder ‚Rock gegen rechts‘ in Frankfurt denke. Großereignisse, bei denen Henning Organisator und Hauptredner, also in seinem Agitatoren – Element war.
Es schien – jedenfalls fern am Horizont – mal möglich, dass die Verhältnisse doch umzuwerfen wären, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“: (Marx) Jedenfalls haben wir die Liedzeile – „Es hat erst angefangen, wir werden immer mehr“ – mitgesungen. Ob das von unserer Zuversicht zeugte oder doch mehr Pfeifen im Walde war, da bin ich mir heute unsicher.
Henning – der ein Ohr für Miles Davis und John Cage hat, der Sviatoslaw Richters Tschaikowsky – Interpretationen zu genießen versteht, der mit Alexis Korner eine Freundschaft pflegte u.s.w – hat natürlich – ich erlaube mir diese Drastik, all sein musikalisches Vermögen unterschritten, wenn er mit den ‚Bots‘ zusammen gearbeitet hat.
Als Faustregel scheint mir für’s Ästhetische wie Politische gültig: Immer wenn wir auf’s ‚Voranbringen‘ fixiert waren, wenn wir schlau und bundespolitisch-gewieft uns dünkten, wenn wir ‚ taktischen Notwendigkeiten‘ frönten oder sogar statt zu kritisieren auch mal gestalten wollten, waren wir belanglos.
(Exemplarisches hierzu findet sich in Hennings Buch auf den Seiten 104 sowie 410 ff)

Siebtens ist Henning nicht altersmilde.
Das ist ja ohnehin nur ein anderes Wort für Resignation. Und Resignation ist eben nicht der Verlust von Zuversicht – dafür kann es Gründe geben – sondern ins milde Licht zu tauchen, was man früher als hässlich denunzierte. Hennings Städtevergleiche erliegen dieser Versuchung nicht:
„Selbst wenn die Münchner das gerne wollten …, ihr Englischer Garten ist keineswegs das größte Hundeklo Europas, denn Berlin – Wilmersdorf ist noch wesentlich kräftiger zugeschissen“.
Gut, Henning, dann raus auf’s Land?
„In Sachsen-Anhalt … ist das Land bereits komplett mit Windkrafträdern vollgestellt. Damit hat man … höchst erfolgreich von der Hässlichkeit der Landschaft abgelenkt“.
Naja, Landschaft… Wichtiger sind ja die Menschen und da ist doch (wir kannten das Wort früher nicht einmal) eine engagierte Zivilgesellschaft entstanden, die zu konsumieren versteht, und zwar kritisch zu konsumieren, also fair ..
„Wer sich zum Mittelstand zählt, weiß die Armut anderer Leute zu schätzen“.
Nicht mal für betrogene Kleinanleger hat der Venske Mitleid.

Achtens ist Henning beneidenswert.
Der ‚realpolitische Lohn‘ derer, deren Rebellion objektiv unter dem Vorzeichen des Scheiterns stand, besteht zum großen Teil darin, wem wir begegnet sind, mit wem wir diskutieren, Pläne schmieden und arbeiten durften.
Wie sollte ich ihn nicht beneiden darum, dass er (in seiner Zeit als Regieassistent in Berlin) mit Samuel Beckett und Peter Weiß diskutiert hat oder mit dem Schauspieler Curt Bois, der das Bundesverdienstkreuz ablehnte, weil es zu vielen Nazis verliehen wurde.
Auch im engen Tour-Bus der ‚Lach- und Schießgesellschaft“ muss es richtig gut gewesen sein.

Neuntens ist Henning akribisch.
Jedenfalls ist er es dann, wenn etwas in seinem Leben eine große Rolle gespielt hat. Seine Promi – Fußballmannschaft ‚FC Schmiere‘ etwa.
Nie würde er formulieren, er habe über hundert Mal für sie gespielt. Es waren – und da muss er recherchiert haben wie damals für die Sachbücher mit Günter Handlögten – 121 Einsätze. Und wenn sein Lektor, dieser Ignorant, ihm das nicht rausgekürzt hätte, wäre uns auch mitgeteilt worden, in welcher Spielminute er ein – bzw. ausgewechselt wurde, vermute ich.

Auch die Zigarettenmarken seines Lebensweges hält er mit jener Genauigkeit fest – „erst Ernte 23, dann HB, dann Rothändle, Gitanes und schließlich Gauloises“ – die mich zur psychologischen Spekulation verleitet, eine Spur Rückfallgefährdung wohne ihm noch inne.
Zehntens ist Henning ein Erzähler.
Er kann beobachten (oder erfinden, als habe er beobachtet); er kann der ‚Tyrannei der Form‘ sich unterwerfen und zugleich mit Sprache spielen.
Er schreibt ja selbst, dass ein Satiriker nicht zwingend Systemkritiker sein müsse – stimmt! Denken wir an Guy de Maupassant, diesen großen Spötter auf bürgerliche Doppelmoral und Lobsänger auf alle Drückebergerei vor staatsverordneter Pflichterfüllung – politisch war er eher auf der Seite der Etablierten.
Wenn Henning schildert, wie er zufällig ein Tanzturnier im Fernsehen sieht – eine der rigidesten Zur-Schau – Stellungen reglementierter Ordnung, bei der es für jeden falschen Schritt Punktabzüge gibt – und Augenzeuge wird, wie ein Haarteil seinen Platz am Hinterkopf verlässt und auf den Boden fällt; wie alle so tun, als hätten sie nichts bemerkt, außer einem Saaldiener, der selbst Toupet – Träger ist und Tanzschritte vollführt, um die Etikette zu wahren beim Versuch, das Haarteil einzufangen … usw…dann leuchtet ein, dass der Venske seit diesem Tage seinen vielen Spleens einen weiteren hinzu gefügt hat:
Er durchforscht die Programmzeitungen nach Tanzturnier – Übertragungen, schaut sie aber ohne Ton, denn
„was die Tanzerei so ganz und gar unerträglich macht, ist die Musik“.
Wenn du den ganzen Abend noch nicht errötet bist, Henning, dann solltest du es jetzt – ich habe dich soeben in einem Atemzug mit Guy de Maupassant genannt.

Von gleicher Schönheit ist übrigens die Episode, wie du un Günter Handlögten eingeschneit, von Strom und Heizmaterial abgeschnitten, den zur Not wärmenden Schnaps ausgesoffen habt und also zur Erwägung gezwungen seid, in welcher Reihenfolge ihr die literarisch hochwertigen Bücher in den Ofen stecken solltet.
Es fiel schwer, ich weiß, aber ohne Konzessionen kommt man eben nicht durchs Leben.

Elftens ist Henning ein Auf – den – Punkt – Bringer.
Den einen Satz, den einen Begriff zu finden, mit dem beerdigt wird, was sonst episch-allgegenwärtig ist, zeichnet große Satiriker aus.
Man denke nur an diese – ein ganzes Universum von Dreck, Ideologie und Selbstmitleid zerschmetternde Charakterisierung Deutschlands als „verfolgende Unschuld“.
Henning besitzt diese Fähigkeit.
Seinem damals sehr alten Vater zuliebe ist er mit ihm nach Stettin, seinem Geburtsort gereist und hat auch die Wohnung seiner frühen Kindheit besucht und also zwangsläufig diese typisch stockende, in jeder Hinsicht peinliche Konversation mit dem dort lebenden polnischen Ehepaar durchlitten. Die Episode endet so:
„Beim Verlassen des Wohnzimmers legte mein Vater die Hand auf das Klavier, nickte mir zu und sagte leise: ‘Und das ist unser Klavier‘…Ich reagierte ähnlich emotionslos wie das Instrument.“

Dieser herrliche Kommentar erledigt ein paar hundert Bücher, Radio – Features und Fernseh – Dokus, in denen ältere Menschen – bevorzugt solche, die von sich sagen, sie seien ganz schön links und keinesfalls revanchistisch – durch Masuren oder Schlesien laufen – erschüttert von der schlechten Bausubstanz von Pferdeställen und Kirchen – und speziell beim Betrachten des Wolkenspiels und eines Melkschemels ihrer Vorfahren ganz ganz tief in ihrem Inneren zu spüren vorgeben, was sie Jahrzehnte verdrängt hatten: dass man nicht wurzellos, sondern der Scholle der Ahnen verhaftet ist – und also dem Blut.

Mit gleichem Spürsinn, mit dem Henning zu verdichten vermag, findet er übrigens auch die Miniatur, in die er ein ganzes Geschichtsbild versteckt. Man muss nur die kleine Episode ernsthaft zur Kenntnis nehmen, in der Henning und seine Mutter im Sommer 1945 – von Hunger und Fußmarsch erschöpft – aus Österreich in Hamburg ankommen, ein Stück mit der S – Bahn fahren und des überfüllten Zuges verwiesen werden, weil sie sich mit einem Ticket für die zweite Klasse in die erste verirrt hatten.
Ohne groß wissenschaftlich – empirisch auszuholen, ist so dargelegt, dass es in Deutschland kein Erschrecken vor den eigenen Untaten, kein Innehalten, keine ‚Stunde Null‘ gab, sondern Kontinuität.

Zwölftens ist Henning nicht unfehlbar.
Irgendwie müssen wir uns ja unterscheiden.
Eine Differenz, die wir haben, erledige ich mit einem Buchgeschenk. Henning hat mal die Sonderbarkeiten des Ortes Wörgl im Kufsteiner Land erforscht, die inspiriert waren von Silvio Gesell. Weil er die Tour mit ‚Liederjan‘, die daraus folgte, noch immer verteidigt, schenke ich ihm zur Strafe eine lesenswerte Schrift von Peter Bierl. Sie trägt den Titel: „Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Der Fall Silvio Gesell“.

Wenn ich noch sagen darf, welcher Satz mir auf den rund sechshundert Seiten, die ich von dir las, der unzutreffendste scheint, dann nehme ich einen, mit dem du bebilderst, dass feige ist, wer immer nur von ‚Strukturen‘ spricht und die Verantwortlichen beim Namen zu nennen nicht wagt: “Wenn der Name Rothschild fällt, weiß man, die Rede ist von Reichtum“.
Ich dagegen bin überzeugt, dieser Name ist sehr oft ein Code, ein Ersatzwort für jüdischen Reichtum, für jüdische Allmacht durch die Beherrschung des Finanzsektors. Lass uns immer beachten, wenn wir über Hässlichkeit von Börse, Spekulation oder shareholder value sprechen, dass in vielen Köpfen die moralische Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital gefährliche Verwirrung stiftet. Wir sollten deshalb immer aufscheinen lassen, dass der bio-deutsche Mittelstand und dieser Verband der Betriebe in Familienbesitz nicht minder widerwärtig sind. Mindestens „nicht minder“.

Nach diesem Tropfen Kritik in einem Meer des Lobes möchte ich zum Schluss der Jury des ‚Großen Bären‘ noch einmal bescheinigen, genau den Richtigen zum Preisträger gewählt zu haben. Sollte sich darin im Einzelfall Buße und Reue spiegeln für die Unterstützung von Martin Schulz in seinem Wahlkampf, so erteile ich hiermit Absolution.
Das Buch (zeigen) hat mich nun einige Wochen begleitet, fasziniert, zu Widerspruch animiert. In meinem Bücherregal wird es eingerahmt von Heinrich Manns „Ein Zeitalter wird besichtigt“ und Alexander Granachs „Da geht ein Mensch“, daneben wiederum stehen Erich Mühsams „Unpolitische Erinnerungen“ und am anderen Flügel Klaus Manns „Wendepunkt“. So unterschiedlich diese Werke auch sind: Sie entwerfen gegen die offizielle eine Gegengeschichte.

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