vonWolfgang Koch 26.10.2006

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Es ist schon verdammt viel geschrieben worden über die achteinhalb Jahre lang dauernde Entführung der Österreicherin Natscha Kampusch, sogar mehr, als auf die Haut ganzer Kuhherden geht. Schmieranten und Komödianten sämtlicher Redaktionsstuben haben ihr Bestes gegeben. Ich erinnere nur an das Gestotter einer selbsternannten österreichischen Qualitätszeitung namens »Österreich«, deren epochenmachendes Erscheinen selbst dem ehemaligen Nachrichtenmagazin »Spiegel« ein seitenlanger Bericht wert war.

Zitat: »160 Quadratmeter Höllenbereich. In der Garage ein Geheimzugang zu Nataschas verlies. Er stösst das Mädchen die Treppe zum Kellerverlies hinunter. Natascha hat Angst« (1.9.)

Unvergesslich auch Kollegin Marga Swoboda in der »Neuen Kronenzeitung«. Dort las man anlässlich des ersten Interviews mit der befreiten Gefangenen: »Ich höre alles aus Ihrem Mund und kann es trotzdem kaum glauben. So wird es den Menschen gehen, die das lesen« (7.9.)

In der Tat unglaublich, ganz wirklich, was da in wenigen Wochen an verlogener Empathie aufgeboten wurde, was sich alles an ein junges Verbrechensopfer heranschleimte und immer noch heranschleimt, von Medizinern aus zehn verschiedenen Disziplinen angefangen, über sogenannte Medienberater, die Herausgeber beim Geldscheffeln beraten, bis hin zu ewig-fröhlich Austro-Nudel Martina Rupp, die Folgendes zum Besten gab: »Niemand darf weiter ungestraft in ihr (Kampuschs) Schicksal kriechen!«

Also gut, nicht kriechen! – Wie wär’s damit:

»Ganz ohne Ursache, gleich bloss zum Scherz, übernimmt niemand die Last eines schweren Kapitalverbrechens, zumal wenn er dabei noch obendrein die qual- und angstvolle Mühe hat, dieses Kapitalverbrechen 16-17 Jahre lang fortsetzen zu müssen.«

Oder: »Wer hätte das Interesse haben können, an einem armen, von fremder Barmherzigkeit lebenden Findling den Tod auf dem Schafott zu wagen, wäre nicht an diesem Findling weit mehr gelegen, als an irgendeinem Findlinge gelegen sein könnte?«

Zwei Sätze des deutschen Philosophen Ludwig Feuerbachs aus einem Memoire über den Fall Kaspar Hauser. – Warum schrieb dieser temperamentvollste aller deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts über den armen Findling Hauser? Weil das auch sein Vater, Paul Johann Anselm von Feuerbach, getan hatte. Der bekleidete 1828 das Amt des Gerichtspräsident zu Bamberg.

Ludwig Feuerbach versuchte in seiner kleinen Nachschrift zur Untersuchung des Vaters den logischen Beweis zu führen, dass der Mann, der den im gewölbten Gemach verwahrten Kaspar gefangen hielt, wohl eher sein Wohltäter und Retter war – und nicht sein Peiniger. Feuerbach unterstützte damit das bereits in Nürnberg seit dem Erscheinen des armen Tropfes sich verbreitende Gerücht: Kaspar sei ein für tot ausgegebener Prinz des Bayrischen Hauses, zumindest aus sehr hohem fürstlichen Stand, und das Kind sei dreckigen menschlichen Absichten und Plänen schon an der Wiege zu Opfer gefallen.

Sicher, der Fall Hauser hat wenig mit Kampusch zu tun. Aber etwas eben doch: dass das öffentliche und wissenschaftliche Interesse viel stärker dem Täter als dem Opfer gelten müsste (siehe oben).
Was bitte, fragen wir, war denn »die Ursach« des Herrn Wolfgang Priklopil, 44, die Last dieses Kapitalverbrechens an einem Wiener Kind auszuführen? Was lag ihn an einer langjährigen Beziehung zu einer Mädchen unter dem Vorzeichen brutaler Gewalt? Was war es, das diesen Täter antrieb?

War es exzessive Dominanzlust? Oder war es ein aggressiver Sadismus? War es Gottähnlichkeitsstreben? Oder war es ein in der Praxis organisierter Mystizismus – nämlich der, ein von anderen unentdecktes Geheimnisse zu besitzen, das dem Täter versprach den Sinn all dessen zu offenbaren, was ihm am Leben unsinnig erschien?

Wer nun war dieser eigenbrödlerische und gemeine Ingenieur, der die österreichische Qualitätszeitung »Der Standard« las und der mit Vorliebe den Kultursender Ö1 hörte?

Unglaublich, dass das bei all dem Getrommel niemanden interessiert.

© Wolfgang Koch 2006

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