vonWolfgang Koch 11.01.2007

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Wie war das Ende der Dreissigerjahre, als Juden und politische Gegner Hitlers vor dem deutschen Terror durch ganz Europa flohen? Wie haben sich diese Fluchten abgespielt? Stieg man einfach in den Zug? Gab es Schlepper? Wie ging es den Kindern im Exil?

Wir stellen uns ja meist vor, die Verfolgten des NS-Regimes hätten sich irgendwie auf eigene Faust in die Schweiz oder in die USA durchgeschlagen; sie wären nur mit dem Allernotwendigsten gereist, um ihre nackte Haut zu retten.

Doch das sind Klischees! Die historische Wahrheit rückt eine umfangreiche Neuerscheinung mit dem Titel Elly und Alexander zurecht, verfasst von der aus Wien geflohenen und heute in New York lebenden Hanna Papanek.

Im Zentrum der Familiengeschichte stehen Papaneks Eltern Elly Kaiser und Alexander Stein. Doch wir erhalten weit über die Familie hinaus Kenntnis von Gruppen und Strukturen der deutschen und der österreichischen Emigration, wir lernen das Milieu kennen, aus dem die Verfolgten stammen, erfahren viel von ihrem Umgang miteinander, ja selbst von ihren Träumen unterwegs in eine ungewisse Zukunft hört man in diesem Buch.

Die meisten Ereignisse spielen in dem schmalen Zeitfenster von Juni 1940 bis November 1942 ab. Nach dem militärischen Sieg des Dritten Reiches blieben den im Vichy-Frankreich festsitzenden Emigranten nur diese wenige Monate zum entgültigen Entkommen. Als die Allierten in Südeuropa landeten, besetzten die Nationalsozialisten ganz Frankreich und begannen eine systematische Jagd auf Juden, Deserteure und politische Gegner.

Ihnen gegenüber standen seit 1938 eilig gebildete oder wiederbelebte Hilfswerke. Die OSE zum Beispiel, 1912 als jüdische Wohlfahrtsorgansiation im Zarenreich gegründet, versorgte in vier Heimen in Frankreich fast 300 Flüchtlingskinder.

Diese jüngsten Betroffenen waren entweder in gemeinsamen Transporten aus Berlin oder Wien gekommen; andere wurden einzeln über die Grenze geschmuggelt, einige wenige hatten sich allein auf den Weg gemacht.

Es gab Kinder, die mit ihren Eltern nach Frankreich geflohen waren – und bei der Ankunft wurden sie als Bedingung für die Aufnahme von ihnen getrennt. Diese Glücklichen, die die Eltern zumindest in der Nähe wussten, nannten sich »Robinsoner«, sie besuchten teils franzöische Schulen, und die Heimregeln verpflichteten sie, einmal wöchentlich einen Brief an die Eltern zu schreiben.

Mit den Flüchtlingen aus Österreich waren übrigens auch die reformpädagogischen Grundsätze des Roten Wiens in den OSE-Heimen gelangt. Einige der Betreuer hingen der berühmten Individualpsychologie Alfred Adlers an, andere waren durch die legendären sozialdemokratischen Kinderrepubliken von Otto Felix Kanitz gegangen.

Entsprechend diskussionsfreudig erprobte die Heimleitung das Mitspracherecht der Kinder bei allen Entscheidungen. Ab Acht wählten Jungen und Mädchen in geheimer Abstimmung ihre Vertreter in die verschiedenen Räte: den Zimmerrat für den Gemeinschaftsschlafraum, den Gruppenrat, dann den Heimrat und sogar einen Disziplinarrat.

Hanna Papanek gewährt viele solche aufschlussreichen Blicke in den damaligen Flüchtlingsalltag. Sie erinnert daran, dass das »erzkapitalistische Monopoly-Spiel« in den OSE-Heimen eine Zeit lang verpönt war. Vor allem aber verachteten die Erzieher die Tugenden ihrer Verfolger: preussische Disziplin und blinden Gehorsam. Kinder sollten vielmehr zum Fairplay erzogen werden. Man versuchte in ihnen eine Liebe zur Sache der Menschheit hervorzurufen.

Die älteren Jungen lehrte man tischlern, schustern und gärtnern; für Mädchen gab es Hauswirtschaftsunterricht. Es sollten ganz normale und gut gebildete Menschen werden. Nicht anders als in den BDM-Lagern träumten auch diese Mädchen davon, dass man ihnen auf den Speisesaaltischen beibrachte, wie man es macht.

Die Situation verschärfte erst mit dem Fortgang des Krieges. Die Behörden holten Kinder aus den Heimen, versuchten möglichst viel versteckte Juden aufzuspüren und zu deportieren. Polizisten nahm sogar Zweijährige aus den Krabbelstuben und liess sie auf dem Bahnhof schlafen.

Die Häscher Hitlers versprach den bereits in Lagern sitzenden Eltern, die Kinder auf Besuch zu bringen. Umgehend verlegte die OSE solche Schützlinge, um die Entführungen zu verhindern; man änderte die Namen der Kinder, um die Suche zu erschweren.

Papanek überliefert uns selbst die Ratschläge für Bombenangriffe: »Wenn die Flugzeuge rüber kommen,« ermahnte man die Kleinen, »müsst ihr euch flach auf den Boden legen und eure Arme über den Kopf verschränken, damit euch nichts passiert.«

Die Autorin selbst ist rechtzeitig aus dem Heim weggekommen – fünf Tage später erschienen zwei Polizisten, um sie zu holen. Papaneks Mutter war 49, ihr Vater 59, sie selbst 13, als die Familie in Lissabon eintraf, um auf das rettende Schiff zu warten.

© Wolfgang Koch 2007
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Hanna Papanek: Elly und Alexander. Revolution, Rotes Berlin, Flucht, Exil – eine sozialistische Familiengeschichte. 580 Seiten, Berlin (vorwärts) 2006. 29,80 EUR, ISBN 978-3-86602-600-1 (alt 3-86602-600-5)

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