vonWolfgang Koch 11.06.2007

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Ich beginne heute mit einer temporeichen Tour de raison durch neun Jahrhunderte Wiener Stadtgeschichte. Im Mittelpunkt steht etwas, das im metropolitanen Gedächtnis noch keinen Eingang gefunden hat, nämlich das Aufspüren bestimmter stadtstaatlicher Anläufe und Ansätze im Schicksal unserer Vorbewohner. Schliesslich liegt der Kontinent Wien ja nur zufällig in einem bewaldeten Meer namens Österreich – und wenn es zu wissenschaftlichen Zwecken möglich ist, Mäusebabys mit Granatapfelsaft zu füttern, warum sollte es dann nicht auch möglich sein, mal nach dem historischen Freiheits- und Autonomiestreben dieser Stadt zu fragen?

Dieser Ansatz führt wie von allein zum Versuch einer Neuperiodisierung der Wiener Stadtgeschichte. Ich teile die politische Vergangenheit in vier markante Zeitepochen ein:

a/ das Schwarze Wien der Habsburger

b/ das Weisse Wien der klassischen Moderne, mit einer liberalen und einer christlichsozialen Phase

c/ der Aufbruch des Roten Wien bis zur doppelten Niederlage in der Austrodiktatur und gegen den braunen Faschismus

d/ und schliesslich der Weg des Grünen Wien von seinen Wurzeln im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Keine dieser Perioden lässt sich ideengeschichtlich scharf gegen die anderen abgrenzen, jede strahlt in die anderen aus. Diesen Einflüssen und Durchkreuzungen werde ich in den nächsten Wochen hier nachzuspüren.

Wenn Urbanität ein Moment des Scheiterns in der narrativen Bemühung ist, von sich selbst Rechenschaft abzulegen, dann brauchen wir eine kritische Geschichte der Stadt. Wenn Urbanität jenes Moment des Scheiterns ist, dann sollten wir unbedingt verschiedene Versionen dessen prüfen, das uns zu dem gemacht hat, was wir vermutlich sind.

Die Grenzen der untersuchten Epochen gehen aus der Ereignisgeschichte hervor – vor allem den Weltkriegen. Man könnte sagen: Wien durchlief zunächst die Metamorphose von der Kaiser- und Residenzstadt eines feudalen Reiches zu einem Ort des Aufbruch in die industrielle Moderne, Wien entwickelte sich dann weiter zum Modell einer Ideologie inmitten eines kulturell herausrragenden Erbes. Und am Ende: da wurde ein indifferenter Gartentraum daraus, halb Stadt und halb Land.

Zu Beginn jeder der vier grossen Wienepochen erschallten die Freiheitsposaunen:

1278 Einzug der Habsburger in die spätere Residenzstadt
1861 Walzertraum einer weithin ausstrahlenden Moderne
1918 Aufbruch in den kommunalen Modellsozialismus
1945 Neustart unter dem Leitbild der Gartenstadt

Jeder Historiker steht vor endlosen Schwierigkeiten, so auch der Stadthistoriker. Die Stadt – also das Leben, die Kultur, die Athmosphäre einer Zusammenballung von Menschen – kann die Geschichte ihrer eigenen Entstehung ja nicht erzählen, ohne Zeugnis von einem Zustand abzulegen, bei dem sie gar nicht anwesend gewesen sein kann. Da der Stadthistoriker zwangsläufig Teil der Stadt ist, muss er also erzählen, was er nicht wissen kann.

Wie mit diesem Problem umgehen? – Nun, eine Herkunft zu haben bedeutet für Wien unzweifelhaft, über mehrere mögliche Versionen dieser Herkunft zu verfügen. Was für Herkünfte sind das? Was hemmt die Alterung des Strassenbelags in der Wipplingerzeile? Was beförderte das Wachstum der Körper in den Vorstädten? Warum sprachen sich Voltaire, Diderot, Rousseau geschlossen gegen die Kolonien Frankreichs in Kanada aus, die Philosophen Altösterreichs aber nie gegen die Balkanpolitik?

So könnten die Fragen dieser Kleinen Wiener Stadtgeschichte lauten.

© Wolfgang Koch 2007
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