vonWolfgang Koch 10.01.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Der neue Name der Wiener Oper, Staatsoper, steht noch gar nicht fest – da fetzen die Lehrer schon das Bild des jungen Kaisers in weisser Uniformjacke aus den Lesebüchern der republikanischen Schulen.

Die Sozialdemokraten, eben noch bereit, sich im Kompromissweg auf ein neu zu beschliessendes Privilegienwahlrecht einzulassen, sie landen die besten Coups ihrer politischen Geschichte – wozu vor allem die politische Aufwertung Wiens zählt.

In der konstituierenden Nationalversammlung, dem Parlament, werden 175 Mandate vergeben, im provisorischen Gemeinderat mit 165 bloss zehn Sitze weniger. Im November 1918 ist zunächst viel von »Demokratisierung der Gemeindeverwaltung« die Rede. Aber, Paperlapapp! Der Deal besteht darin, dass die Parteien einen neuen Mandatsschlüssel von 8:6:2 für das provisorische Gremium aushandeln. Die Neugewichtung der SP gegenüber der CSP entspricht ihrem vermuteten Gewichtsgewinn auf der Strasse.

Tatsächlich verfügen die Sozialdemokraten im Moment als einzige Partei über ein funktionierendes Vertrauensmännernetz – vor allem in den Kasernen. Dadurch halten sie die reale Macht in den Händen.

Am 3. Dezember tritt der Provisorischer Wiener Gemeinderat zusammen: 84 Christlich-Soziale, 60 Sozialdemokraten, 21 Liberale und Deutschnationale. In dieser Mandatsaufteilung ist eine Frauenquote inkludiert, so das sich bei den ersten Sitzungen der neuen Stadtvertretung die ganze Aufmerksamkeit auf Deutschösterreichs erste politische Mandatarinnen richtet:

Tragen die Damen Hut? Tragen sie dunkle Toiletten? Können die Frauenzimmer überhaupt laut genug sprechen? Schrecken sie vor drastischen Bemerkungen zurück? Entsprechend den ängstlichen männlichen Erwartungen drehen sich die ersten weiblichen Beiträge im Redekampf um die weltbewegenden Themen Müllabfuhr, Säuglingswäsche und die Lage der Dienstboten.

Parallel zu den neuen Gremien in der Hauptstadt konstituieren sich aus den Landtagen hervorgehende Provisorische Landesversammlungen und etablieren die neue Staatsgewalt in der Provinz. In der Praxis heisst das: neue Truppen, ein paar Portierskappeln, neue Büros und Kanzleien. Die Demokraten der Länder, die den Kaiser eher widerwillig abgeschüttelt haben, sichern zunächst das Rechtsleben, die alleinige Regierungsgewalt über das Staatsgebiet aber bleibt in Wien. Nur mit grösster Mühe gelingt es den Ländern einen »Bundeskommisar« aus der Hauptstadt zu verhindern.

© Wolfgang Koch 2008
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