vonWolfgang Koch 17.01.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Kein Geschichtswerk, nicht eines, dass ohne den Verweis auf den schmerzlichen Verlust des Wiener Hinterlands aus den Tagen der Monarchie auskommt. In manchen Fachpublikationen der letzten achtzig Jahre kursiert dafür das schöne Wort von der neuen »aussermittelpunktlichen Lage«.

Aber waren die Felder der Ruthenen und waren die kroatisch Küstengewässer je wirklich das Hinterland Wiens? – Das ist doch eine recht famose Behauptung! Die habsburgische Grossmacht kannte ein System abgestufter Verwaltungszentren, in denen grosse Städte gegenüber kleinere Städten und Orten Platzhalter der dynastischen Macht spielten.

Die Gesamteinwohnerzahl Österreich-Ungarns betrug mehr als 51 Millionen Menschen. Nur 2,03 Mio. davon sassen in der Residenzstadt. Wien ist vor dem Krieg vor allem eine Repräsentations- und eine Vergnügungsmetropole gewesen, ein Ort, an dem die reichen Fabrikanten aus Böhmen und die Grossgrundbesitzer aus Galizien den Profit und die Grundrente, die aus den nichtdeutschen Teilen der Monarchie stammten, verprassten.

So irreal die Angst freilich ist, man wird den Menschen jener Zeit konzedieren müssen, dass der Schreck vor einem bleibenden Bedeutungsverlust 1918 tief sitzt. So tief sitzt er, dass seine Wellen bis heute aus dem Dunkel der Geschichte heranbranden.

Winter 1918/19. Den neuen Wiener Herren in den Palästen wird bewusst, dass die angestrebte Stellung als reichunmittelbare zweite Hauptstadt des Deutschen Reiches mit einer veritablen Gebieterweiterung verbunden sein müsste. Was die Nachfolger des Kaisers und seiner Erzherzöge anstreben, ist nichts geringeres als der Glanz einer zweiten deutschen Kapitale.

Denken im kalten Dezember 1918 die Menschen wirklich an Stadtautonomie und Gebietserweiterung? – Nein, die breite Unterschicht hat natürlich anderes im Kopf. Die Versorgungslage der Stadt ist erbärmlich. Säuglinge werden in Zeitungspapier gewickelt, in Schweizer Blättern erscheinen ergreifende Hilfsaufrufe.

Als wäre die Situation nicht schon gespannt genug, stemmen sich auch noch die Länder dem neuen Gesamtstaat entgegen. Als erstes das bäuerliche Tirol, das am 21. November seine förmliche Selbstständigkeit begründete. Der Kopf der Salzburger Christlichsozialen, Hasenauer, erklärt im Jänner 1919: »Die Länder bestehen nach wie vor darauf, dass Wien von einer selbstständigen internationalen Stelle erhalten wird.«

Was sich hier herauskristallisiert, ist der Gegensatz zwischen der Stadt Wien (und einer sie beherrschenden Sozialdemokratie) auf der einen Seite und den Christlichsozialen der Provinz auf der anderen. Der rabiate Dritte im politischen Spiel ist die militante Linke. Ermutig durch kommunistische Experimente im Osten kommt es im Februar von Linz aus zu einer Erneuerung der Rätebewegung.

Rätebewegung? Durchaus. Siegesmeldungen in Russland lassen das Rätemodell für viele Menschen attraktiv erscheinen: imperatives Mandat, ständige Abrufbarkeit der Funktionsträger, Organisation nach Produktionseinheiten. In Wien gibt es 111.796 unterstützte Arbeitslose, das sind 76% aller Arbeitslosen in Deutschösterreich. Nicht wenige von ihnen würden Favoriten und Simmering am liebsten an die Sowjetunion andocken.

Doch es sollte nie ein Rätewien geben, nie einen mitteleuropäischen Brückenschlag zwischen dem Räterepubliken in Ungarn und in München, keinen entscheidenden Puzzlestein auf dem Weg des Weltkommunismus zu einem sozialistisch geeinten Europa. Diese Hoffnung ist für ein paar Wochen übermächtig gross. Aber die sozialdemokratische Mehrheit der Linken, sie entscheiden sich für einen anderen Weg.

Das Rätewien verglüht dort, wo sich das Feuer der sozialen Leidenschaft am stärksten entzündet hat: in den »Arbeiter-Soldaten-Bauern-Räten« der Industriestädte. Das sind veritable Selbstorganisationen der klassenbewussten Arbeiterschaft, aufgeweckte Diskussionsarenen ohne Kommandogewalt. Den Sozialdemokraten gelingt es in Wien, aus den ASB-Räten vorübergehend ein Kontrollinstrument und damit eine Stütze des parlamentarischen Systems zu machen.

© Wolfgang Koch 2008
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