vonWolfgang Koch 08.05.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Ein Literaturvergleich. Der Schriftsteller George Orwell charakterisierte die englische Literatur der Jahre 1910 bis 1925 einmal so: Ihre Gedichte drehen sich um den Zauber versteckter Dörfer, sehnsüchtig beschwört man Ortsnamen herauf, die Natur wird zum Hauptgegenstand, viele Anthologien sind ein einziger ungeheurer Erguss von »Landschaftsgefühl« oder, Orwell wörtlich: »die Entleerung eines mit Ortsnamen vollgestopften Bauches«.

Was für eine erstaunliche Parallelaktion! Orwells Einschätzung der englischen Literatur lässt sich 1:1 auf die österreichischen Ergüsse der Dreissigerjahre übertragen. Wie erklärt sich der britische Schriftsteller die Vorliebe seiner schreibenden Landsleute für ein idealisiertes Bauerntum?

»Der Grund«, sagt er im Rückblick von 1940, »liegt zweifellos darin, dass der von seinen Zinsen lebende Teil der Besitzenden endgültig keine Beziehung mehr zu Scholle hatte; doch auf jeden Fall herrschte dort, viel mehr als jetzt, eine Art Snobismus vor, zum Land zu gehören und das städtische Leben zu verachten.«

Hier endet der nun Vergleich. Denn im Unterschied zu den Aufsteigern aus der britischen Mittelschicht sind die Führer der österreichischen Nation nicht in Sichtweite einer Farm aufgewachen. Sie sind häufig selbst Bauernkinder.

Dollfuss hat nach seiner Bauernhofkindheit im voralpenländischen Texing im bischöflichen Knabenseminar in Hollabrunn seine zweite Prägung erhalten, Schuschnigg im Jesuitengymnasium Stella Matutina in Feldkirch. Wie ihre ideologischen Handlanger und Vollstrecker Guido Zernatto und Guido Schmidt durchlaufen die beiden Diktatoren den klassischen Reproduktionszyklus des ländlichen Bildungsbürgertums und bleiben dabei in Wien in der Politik hängen.

»Erfahrungsgemäss lesen überzivilisierte Kreise gern etwas über das Bäuerliche, weil sie sich einbilden, es sei primitiver und gefühlsreicher als sie selbst«, so Orwell. Demnach wäre in dieser Literaturtendenz ein viriler Vitalismus am Werk: »eine idealisierte Vorstellung von dem Mann hinterm Pflug, Zigeuner, Wilddieben oder Wildhütern, die sich mit einem Gedanken an einen wilden, freien und ungebundenen Teufelskerl verbanden, einen Kerl, dessen Leben aus Fallenstellen, Hahnenkämpfen, Pferden, Bier und Frauen bestand«.

Dieses Ideal trifft exakt auf Arbeiten von Richard Billinger, Josef Friedrich Perkonigs, Karl Schönherr, Josef Weinheber, Karl Heinrich Waggerl, Anton Wildgans und eben Guido Zernatto zu. Sie repräsentieren die österreichische Schriftstellergeneration der Dreissigerjahre. Selbst der ideologisch gänzlich unverdächtigen Franz Theodor Kramer kann sich nicht freimachen von der Vorstellung einer freieren Brust unter offenem Himmel.

Alle diese Dichter begeistern sich für die idyllischen Seite der Dörfer und Weiler – Pflügen, Ernten, Dreschen und so weiter. Die Art zu leben, auf die ihre Literatur hinweist, ist ein Leben, das sich um einfache Mythen dreht: Geschlecht, Erde, Feuer, Wasser, Blut.

Einschränkend ist zu sagen, dass die Österreicher sich – anders als die britischen Idylliker – durchaus realistische Vorstellungen von der entsetzlichen Knochenarbeit machen, die mit der Rübenernte oder dem Melken von Kühen mit entzündeten Eutern frühmorgens um vier verbunden ist.

Antiurbaner Snobismus, ja, mit Sicherheit sogar. Aber modifiziert, der Zeit angepasst: Man gehört gar nicht mehr wirklich zum Land, ist häufig in die Stadt gezogen, man trägt jetzt öfter Uniformen und Anzüge als Trachten, man eilt vom Kaffeehaus in die Abendmesse oder umgekehrt, leiht sein Ohr dem Radio und nicht mehr der Hausmusik – und schon beginnt man das städtische Leben zu verachten.

Edelweissromantik, Jagdtrophäen, Skialpinismus verkleistern die Hirne. Individualisierung, Automatisierung, Befreiung aus sozialer Kontrolle und aus materieller Not – dieses Programm der Moderne gerinnt bei Zernatto zur Negativliste von: Vereinzelung, Entseelung, Entmenschlichung, Verhurung, Verarmung von Erfahrung, Isolation, sozialem Verfall.

Als Schwärmer wünscht der Generalssekretär der Vaterländischen Front sich eine »geistige Neubesiedelung Wiens von den Alpenländern her«. Musik, Psychoanalyse und Marxismus – nichts als Ersatzreligionen. Die Nation – ein Setzling vom alten Baum der Kultur. In der Französischen Revolution sei die Nation erwacht, nun müsse ihr die »Kulturnation« folgen.

Als Hitler den Stiefel ins Land setzt, flieht dieser dichtende Anführer der Vaterländischen aus der Grossstadt, die er so leidenschaftlich ablehnt, weil sie ihm als Gehäuse der Industriegesellschaft gilt. Und Zernatto entkommt in ein noch grösseres Babylon: New York.

Ich habe vor etlichen Jahren den indonesiche Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer in seinem Hausarrest in Jarkata besucht, um ein Interview mit ihm zu führen. Eine von Toers vielen literarischen Figuren in Anak Semua Bangsa hält einmal einen kurzen Moment lang die Geschäftigkeit der Stadt »für das Rascheln und Wiegen von Zuckerrohrblättern«.

Bei Zernatto ist es 1938 genauso: Das Städtische evoziert das Ländliche. Als dieser antihitlerische Österreicher nach einigen Wochen in Big Apple das Quietschen der Tram nur mehr mit dem Quietschen der Stalltüre auf seiner Kärntner Alm assoziiert, wählt er konsequent den Freitod.

© Wolfgang Koch 2008
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