vonWolfgang Koch 15.05.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Das Führerprinzip lebt auf. Adolf Hitler spricht am 15. März 1938 leibhaftig vor 200.000 Anhängern, einem Zehntel der städtischen Bevölkerung. Er bezeichnet Wien als eine »Perle des Reiches«, und verspricht, dass er diese Perle in jene kunstvolle Fassung bringen werde, die ihrer würdig sei.

Ist es nicht seltsam, dass Alfred Kubins Traumstadt in seinem Roman Die andere Seite ebenfalls »Perle« heisst? Ihre literarischen Kulissen stehen in Wien.

Die Realstadt Wien versinkt in den Alptraum einer zweiten Diktatur. Sie wird per Dekret »Reichgau«, erhält wieder einen Statthalter wie im Mittelalter und wird nach Berliner Vorschriften verwaltet. –»Deutsche Gemeindeordnung, jawoll, mein Führer!«

Dem Nationalsozialisten Hermann Neubacher gesteht Berlin die Amtsbezeichnung Bürgermeister nur äussert widerstrebend zu. Dieser Mitmacher führt Reden mit sophistischen Wendungen wie »diese Stadt ist mehr als die zweitgrösste Stadt Grossdeutschlands«, oder »Wien, diese unabsetzbare Königin der Donau…« – Die Formulierungen lassen auf übermässigen Alkoholkonsum oder auf beträchtliche Spannungen innerhalb der NS-Diktatur schliessen.

Hitlers Stäbe planen: sie planen den Umbau der gesamten Metropole. Mit der zuletzt 1937 im Stadtbauamt andiskutierten Stadterweiterung wird es diesmal ernst. Der NS-Staat verfolgt die Sache mit dem ihm eigenen Esprit: Unter Zwangswalt wird aus 97 Gemeinden ein Ring um den historischen Stadtkern gebildet, beginnend südlich von Korneuburg über Gaaden, Gumpoldskirchen, Grammatneusiedl bis südlich von Marktgrafneusiedl. Das Stadtgebiet wird dadurch von 178,4 auf 1.215,4 Quadratkilometer vergrössert. Fünf neue Bezirke entstehen: 22. Grossenzersdorf, 23. Schwechat, 24. Mödling, 25. Liesing, 26. Klosterneuburg.

Die Zwangsmassnahme der Eingemeindung geht ohne viel Federlesen vor sich. Es findet keine einzige Verhandlung mit den Betroffenen statt. Am 24. Mai 1938 wird den Gemeinden Fischmend, Korneuburg, Klosterneuburg, Mödling und Hadersdorf-Weidlingau einfach ihre Einverleibung ins Gaugebiet Wien bekannt gegeben. Niederösterreich erhält für die abgetretenen Gemeinden den nördlichen Teil des Burgenlandes zur Entschädigung.

Wien steigt bis Oktober zur flächenmässig grössten Stadt des Grossdeutschen Reiches auf, und nach der Bevölkerungszahl zur sechstgrösste der Welt. – »Führerbefehl der ringförmigen Stadterweiterung vollzogen, jawoll!«

Man mag heute über dieses gewaltsam hergestellte Gross-Wiens denken, was man will – grosszügig und weitblickend ist es doch. Zwar sind Umfang und Ausdehnung Gross-Wiens weniger das Resultat eines rationalen Kalküls als die Ausgeburt ideologischen Grössenwahns. Wien Eigenständigkeit als Parteigau erfordert in den Augen von Hitlers Planern eines bestimmtes Mindestmass. Und mit Rangordnungen kennen sie sich bestens aus, die Neuen Menschen in Uniform.

Hitler hat übrigens nur die kleine Lösung gebilligt. Das ursprünglich geplante Gross-Wien hätte sich nach seiner Fläche von St. Pölten bis zur burgenländischen Grenze und von Korneuburg bis zur steirischen Grenze im Süden erstreckt. Dieses Giga-Wien wäre damit die flächenmässig weitaus grösste Stadt der Welt geworden. Los Angeles, damals Rekordhalter, wäre mit 2.692 Quadratkilometern unter dem Erweiterungsplan von Wien mit 6.000 Quadratkilometer zu liegen gekommen.

Auch sonst müht sich der NS-Staat sehr, jede Bindung der früheren Bundesländer an Wien zu beseitigen. Im Oktober 1938 werden dem Gau Niederdonau 16 und dem Gau Oberdonau fünf sudetendeutsche Bezirke eingepflanzt.

Hitler, »geprägt von dem förderalistisch-separatistischen Wien-Hass der österreichischen Provinz«, so der Zeithistoriker Gerhard Botz, »äusserte sich nachträglich noch befriedigt, es sei für den Bereich der Ostmark das Richtige gewesen, den Zentralstaat auf Kosten von Wien zu zerschlagen und die Kronländer wieder herzustellen«.

© Wolfgang Koch 2008
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