vonWolfgang Koch 02.08.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die die WienerInnen des 18. Jahrhunderts waren besoffen von einer neuen Lustbarkeit: Spaziergehen, Spazierenfahren. Ein neues Lebensgefühl schien die Stadt ergriffen zu haben.

Das heisst natürlich nicht, dass die früheren Geselligkeiten vorbei waren. Weiterhin wurde auch die grosse Andacht gepflogen, die Kirchen waren voll! Der Punkt ist, dass im 18. Jahrhundert mehrere neuartige Syntheseversuche von Drinnen (Stadt) und Draussen (Land) stattfanden, ohne ein abgeschlossenes Bedeutungsmuster zu bilden. Es kam zu subvertierenden Überschreitungen der starren Aussengrenzen von Befestigungsring, Vororte und Vorstädte, und zur Herausbildung einer mit Parks und Gärten veredelten Peripherie im Inneren.

Die Josefstadt, einer der jüngeren Bezirke Wiens, wurde zwischen 1690 und 1770 zu einer vorwiegend vom Adel bevorzugten Gartenstadt. Noble Familien bauten Sommerresidenzen und versuchten im Freien mit Blumenzucht und Gartenkunst romantische Gefühlszustände zu erzeugen.

Wir haben es hier mit einem sozialen Mechanismus und mit kulturellen Formen zu tun, in denen Freizeit und Natur zusammentrafen; mit der Herausbildung von neuen Lebenstilen vor dem Hintergrund des ehernen Gesetzes der Produktivität.

Die Wurzeln eines grünen Wiens reichen also zurück bis zur fröhlichen Landpartie und zu den Freizeitvergnügungen der Wohlhabenden in den kühlen Schatten des Wienerwaldes. Man kutschierte wochenends hinaus zu Gärten und Datschen, um sich einem neuen Privatheit hinzugeben. Im 19. Jahrhundert begannen verschiedendste theosophische Ideen in diesem Lebensgefühl mitzuschwingen, ein Körperkult kam auf, die vielbrüstige Wahrheit der Lebensreformer sowie verklärte Vorstellungen von der Mutter Erde spielten herein.

Für DOSTOJEWSKI war das Utopisches untrennbar mit der Natur verbunden – »die Menschheit« müsse sich »im Garten erneuern«, schrieb er in sein Tagebuch, das sei »die Formel«.

Auszumachen waren die ersten programmatischen Stadtflüchtigen bereits kurz nachdem die Industriealierung ihre Russspuren an den Stadträndern hinterlassen hatte. Zu entdecken sind die ersten Pioniere genau in dem historischen Augenblick, als der Fortschritt grössere Menschenmengen in die hygienisch besorgniserregenden Grosstädte geleitet hat.

Wir haben uns sicher vorschnell daran gewöhnt, Stadtfeindschaft und Agrarromantik als Folgewirkung der Aufklärung zu sehen, den Ursprung dieser Dyade allein in der konservativen Kulturkritik zu suchen.

Es stimmt zwar, dass die Befreiung des Subjekts aus den feudalen Eingebundenheiten und die damit verbundene Umstrukturierung Traditionen, gesellschaftliche Zusammenhalte und schichtenspezifische Strukturen aufgelost hat. Es stimmt, dass dieser Prozess in den bürgerlichen Schichten als »Kulturkrise« empfunden wurde und die Forderung nach einer Rückkehr zu den »ewigen Werten« und dem »alten Wahren« hervorrief. Doch dabei fand eine Transformation jenes aufklärerischen Naturideals in das Restaurative statt. das
Freiheitsstreben ist nicht mehr auf die Emanzipation von Naturzwängen gerichtet, sondern auf eine Idylle.

Noch einmal: Stadtfeindschaft und Agrarromantik sind im 19. Jahrhundert weit mehr als eine Reaktion der Städter auf neue Lebenbedingungen. Sie sind – so meine These – absolut konstitutiv für die moderne Stadt selbst.

1836 besass Wien im Zentrum noch ein fast ländliches Aussehen. Ein Besucher lobte die überschwengliche Gastfreundschaft: »Am liebenswürdigsten ist der Wiener als Gastfreund. Er will deine Bekannstchaft machen, ladet dich ein, mit ihm über das Land zu fahren… öffnet sein Herz und sein ganzes Haus… Alles steife zeremonielle Wesen ist verbannt; je ungenierter du bist, je fröhlicher, desto mehr gefällst du.«

Natur und Landschaft als ein privates Rückzuggebiet, das hiess: Hier wurde aus dem ästhetischen Prinzip der Konstruktion etwas Neues, eine Mentalität, die sich bald den Weg zum einem völkischen Selbstverständnis bahnte. Natur und Land wurden nicht mehr wie früher gegen den »unnatürlichen« Wiener Kaiserhof gewendet, gegen den Prunk der Residenz, gegen die Hybris der Macht, sondern gegen die Nachteile des Stadtlebens: Lärm, Schmutz und eine heiss umfehdete Öffentlichkeit.

Genau in diesem Punkt schloss sich der Kreis. Die antiindustrielle Haltung der idiographischen Weltsicht hatte ihr Vorbild in der vorindustriellen Ordnung des Feudalismus: Leibeigene der Mutter Erde sollten in naturgemässer Lebensform leben. Die Stadt stand für »Unnatürliches«, stand für Rationalität und Atheismus, Abstraktion, Wissenschaft, Theorie, Spekulation. Und der neue romantische Zugang der Städter zum Land schlug wieder auf die Stadt selbst zurück: Als zur Jahrhundertmitte die ersten Ideen zur Errichtung einer privaten innerstädtischen Zugsverbindung auftauchten, war sofort von einer »Vergnügungsbahn« die Rede.

Ich fasse zusammen: An die Stelle der traditionellen Urbanisierung des Landes trat im 19. Jahrhundert eine Verländlichung der Stadt. Arbeitsplätze entstanden in immer grösseren Entferungen vom Zentrum. Und zerstreute Stadtlandschaften, Siedlungsinseln und Villenvororte existieren seit damals vollkommen ohne räumlich-architektonischen Zusammenhalt.

So begann sich das zweite Wien auszubreiten.

© Wolfgang Koch 2008
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