vonWolfgang Koch 04.08.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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1860 sehnte sich jede bessere Wiener Familie nach dem Ankauf eines kleinen Landhäuschens in der »reizenden Umgebung der Vaterstadt«. Reisende berichten von einem »angeborenen Drang« des Wieners aus der Stadt hinauszukommen.

Um 1870 herum machte eine Mode Schule, die mit dem Namen Daniel Gottlob Moritz Schreber verbunden ist. Entgegen der landläufigen Annahme war der in Leipzig praktizierende Orthopäde [1808-1861] aber nur der Namengeber der Schrebergartenbewegung. Der Pionier der Naturheilkunde und Erfinder der »ärztlichen Zimmergymnastik« starb übrigens im gesunden Alter von 53 Jahren.

Immerhin ventilierte der Mann in Leipzig den für seine Zeit ungewöhnlichen Wunsch nach kindgerechten Spiel- und Turnplätzen. Er jedoch war es nicht; es waren die Eltern eines Schulvereines, die begannen »Familienbeete« anzulegen. Diese wurden später parzelliert, umzäunt und »Schrebergärten« nannten.

Zwischen den experimentierenden Leipziger Eltern und dem Naturapostel bestand somit kein näherer Zusammenhang – so ungerecht ist Geschichte mitunter. Was heute unter dem falschen Namen firmiert, das Anlegen der Familienbeete, muss als die Geburtsstunde des Kleingartens bezeichnet werden.

In ganz Zentraleuropa erschien das Leipziger Modell sofort logisch und attraktiv, als die Wohnungsnot in den Siebzigerjahren unerträglich wurde. In vielen Städten entstanden weitere »Gartenkolonien«.

In Wien fiel die Schrebermode mit dem ersten ökologischen Grosskonflikt zusammen. 1873 gelang es Josef Schöffel den Verkauf und die bereits bewilligte Abholzung des Wienerwaldes zu verhindern. Im Jahr darauf berichtete der Kunsthistoriker Carl von Lüzow: »Der Wiener lebt nur im Winter in der Stadt, den Sommer verbringt er auf dem Lande, und schafft sich so sein eigenen Ersatz für das villenartige, von Blumen und Grün umgebene Familienhaus, dessen sich andere moderne Städte in ihren neu angelegten Teilen zu erfreuen haben.«

Ab 1880 mehrte sich in den Sommerfrischen am Rand des Wienerwaldes die Zahl der Landhäuser: in Hietzing, Ober St. Veit, Penzing, Dornbach, Neuwaldegg, Pötzleinsdorf, Döbling, Sievering und an anderen Orten. Das beginnende Eisenbahnzeitalter erweitere den Radius des Verkehrs bis auf den Semming oder ins Kamptal.

In der späten Gründerzeit entwickelte sich die oft skurille Form der freistehenden schlossartigen Villa – der Auftakt zur Zersiedelung der Landschaft. Der Adel und das gehobene Bürgertum scheuten jetzt keine Entfernung mehr. Ab der Jahrhundertwende wurden Kind & Kegel einfach zur Bahn gebracht und via Südbahnstrecke über den Semmering, Lienz und das kühle Pustertal bis nach Bozen befördert, wo man nordöstlich der Stadt, am Rittnerberg, die Sommerfrische verbrachte – dem ältesten nachweisbaren Erholungsgebiet dieser Ära.

© Wolfgang Koch 2008
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