vonWolfgang Koch 07.08.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Aufbruchstimmung im Fin de Siècle. Neben den schönen Künsten spielte die Lebensreform eine nicht unwesentliche Rolle. In Künstlerkolonien wurde die antiakademische Freilichtmalerei propagiert, zudem eine generelle geistige Liberalität. Als Mittel physischer Erholung und hygienischer Prophylaxe galt das Baden.

Baden wurde in Wien zentrale Bestandteil eines neuen Körperkultes, der selbst Teile der Oberschicht erfasste. Das Phänomen war keineswegs auf diese Stadt beschränkt, aber es fand hier einen fruchtbaren Boden. Romantische Naturvorstellungen verbanden sich mit Sozialutopien, Vegetarismus mit einem gesteigerten Körperbewusstsein, usw. usf.

Eines der vielen Experimente in der Freizeitkultur fand am Ufer der Donau ihr Feld. Der Fluss lässt sich ja als fliehender Teil der Landschaft lesen, da er – wie die Zeit – gleichzeitig stillsteht und vergeht. Auf diesem doppelten Boden bewegte sich die Aufbruchsstimmung der ganzen Epoche mit Leichtigkeit dahin.

1903 wurde das Strombad Kritzendorf eröffnet. Durch die Franz-Josephs-Bahn direkt an die Stadt angeschlossen, begab sich das bessere Wien damit auf Sommerfrische. Man zeigte sich mondän und träumte von der Rivera. Entsprechend wurde die Kolonnie bald Krize-le-bains genannt.

Diese Rivera an der Donau wurde zur Übergangszone zwischen Massenkultur und Elite. Wer nach mehr verlangte, etwas einzelne Erholungssuchende aus wohlhabenderen Familien, suchten in Naturheilanstalten wie Veldes naturgemässe Lebensweisen, sie errichteten Lufthütten-Kolonien am Monte Verita, experimentierten mit Diäten und mit Wasser-Luft-Sonnebädern. Man könnte sagen: Die neuen Kuranstalten begrüssten etliche Industriellenkinder mit einem dringenden Bedürfnis nach körperlicher und seelischer Reinigung unter ihren Gästen.

Warum erzähle ich das? Die Stadtflucht erfasste damals eben nicht nur das Wochende, die Villen und die Sommerfrische, auch die Siedlungsversuche der Lebensreform- und Jugendbewegung gehörten zu den Vorstufen dessen, was ich das Zweite Wien, was ich Zweitwien, nenne.

Ab der 1900er-Jahrhundertwende fuhren regelmässig sogenannte Naturalisten am Wochenende aufs Land und liessen die Hüllen fallen. Sie flohen dem Mief enger Mietwohnungen, der Eintönigkeit des Arbeitsalltags in den Fabriken, hinaus in den Wald und an den See.

Der Weg, den zunächst eine bürgerliche Elite bereitet hatte, wurde nun Schritt für Schritt zu einer Trampelpfad. Anfangs waren es ein paar Aussenseiter, die sich hüllenlos in die Donau trauten. Einer davon hiess Florian BERNDL. Dieser Naturapostel, Einsiedler und Pionier des Naturalismus hauste im Gebiet des heutigen Gänsehäufel-Bades in einem verfallenen Strassenbahnwaggon und pries den geplagten Grossstädtern auf dem Areal Nacktbäder und Sandkuren an.

Das erstaunliche an der ganzen Entwicklung war: Die Naturerfahrung vor dem Ersten Weltkrieg unterlag praktisch den gleichen Diskursen der Selbstverwirklichung, des Hedonismus und der Selbsterkenntnis, die auch das Rückgrad der urbanen Hochkultur bildeten.

© Wolfgang Koch 2008
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