vonWolfgang Koch 13.11.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Euphorie 1: der überraschende Wahltriumph zwei Wochen davor. Dr. Tsederbaum präsentierte das Wort Euphorie auf einer Flop-Chart. Darüber standen die Wörter Sicherheit + Entgrenzung, nochmal darunter das Wort Trauma mit zwei Pfeilen nach oben.

Sie werden es zunächst nicht glauben, fuhr die Analytiker fort, aber das grosse seelische Lebensthema dieses Mannes war der Vatermord. Zunächst verweigerte er ja den symbolischen Mord an seinem leiblichen Vater. Anders, als die meisten seiner Generation, die bärtigen Revoluzzer, stellte er weder seine Eltern noch deren Generation wegen ihre angeglichen oder tatsächlichen Mitwirkung an einer Diktatur zur Rede. Im Gegenteil, er warf sich als braver Sohn schützend vor sie.

Seine ersten politischen Jahre waren geprägt von Tumulten, die einen Ich-Aufbau an externen Symbolen verraten. Die Karriere in der Partei begann mit einem Putsch gegen seinen Vorgänger – einen Mann, der ein säuerliches Gesicht machte, weil er als Juniorpartner in einer Koalition Wählerstimmen verlor.

Erstmals tobte der Saal, Tränen flossen, Freundschaften zerbrachen. Für unseren Politiker war es ein Ersatzvatermord, und er dürfte sich über diese psychische Dimension seiner verräterischen Intrige niemals klar geworden sein.

Jetzt war er der Chef, der Robin Hood, und er machte die Partei in der Opposition so gross wie noch nie. Am Ende des Aufstieges trat er bei beträchtlichen internationalem Gegenwind in eine konservative Koalition ein, und auch er verlor wieder Stimmen, genau wie sein Vorgänger, den er deshalb mit Schimpf und Schande aus dem Saal gejagd hatte. Es war das alte Lied: Die Revolution frisst ihre Kinder, und dummerweise hatte unser Politiker bei seinem Antritt bereits das Muster für seinen eigenen Sturz geliefert.

Darum war er jetzt gewarnt. Um einem Putsch zuvorzukommen, spaltete er einfach seine Bewegung: in eine mehr moderate, regierungswillige Kraft und in eine ziemlich fundamentalistische Rabaukenpartie. Dieses Manöver erfolgte – erlauben Sie mir das Wort – im rauschhaften Schauer eines Politiksüchtigen. Der Ausgang war äusserst riskant, grosse Vermögen und viele Wählerstimmen standen am Spiel. Unser Politiker konnte für ein paar Jahre nur mehr auf seine Hausmacht zurückgreifen: sein Privatvermögen und die persönliche Popularität in einer zurückgebliebenen Zone.

Es war ein genialer Zug! Aber war es wirklich auch sein Plan? Hat der Verstorbene den grossen Erfolg eines Bruderkrieges in der Opposition vorausgesehen? Wir wissen es nicht und wir werden es nie erfahren. Was wir wissen, ist: Plötzlich vermehrte sich sein Kapital wieder, Kopien kamen in Umlauf. Ein halbes Dutzend starker Männer war nun gleichzeitig am Werk, und die Innenpolitik boulevardisierte sich vollends.

Sein nächster Coup: Der Politiker schloss sich einer Regenbogenkolition an, um eine konservative Kamarilla aus der Direktion des öffentlichen Fernsehens zu vertreiben. Damit verdoppelten die zerstritteten Brüder die ihnen zugestandene Sendezeit, ihr Show-Duell wurde zum eigentlichen Knüller, zum Lebenselexier der nächsten Wahl.

Der Rest war ein Kinderspiel. Der Politiker gab den erfahrenen alten Hasen im Geschäft, er zauberte vor jeder Kameralinse seine Provinz als einmaliges »Modell« aus dem Hut, und am Abend des Wahlsieges, bei dem der bereits Totgesagte zehn Prozent abgesahnt hatte, versprach er vor den Augen der ganzen Nation »eine ordentliche Regierung zusammenzubringen«, so als ob allein der nun massgebliche Mann wäre.

Technisch gesehen war er eben immer eine Klasse für sich; einmalig in der Geschichte des kleines Landes. Er wusste das, und auch darum wollte er in jener dramatischen Nacht nicht heimchauffiert werden. In seinen Augen war er nahezu allmächtig: Er hatte das Schicksal der nächsten Regierung in der Hand; er entschied über die Wiedervereinigung seines Lagers; und er stand davor, bei sich zu Hause eine absolute Mehrheit zu erringen. Der Spass, den er auf dem Weg dahin haben würde, würde den bisherigen Spass noch übertreffen.

Euphorie 2: Er war ein Mann der grossen Versprechen, er griff ständig an. Er war ein Insider des politischen Systems und spielte doch die Rolle des Aussenseiters. Dazu passt, dass er ein hoch emotionaler Mensch war. Er liebte die Selbstabwesenheit und litt unter Wiederholungszwang. Zu dem Zweck hatte er sich einen unorthodoxen Arbeitstil zugelegt, bei dem er in einer permanenten Wahlschlacht landauf landab von Feier zu Feier tingelte. Unablässig schüttelte er Hände – die schwieligen der Bauern, die parfümierten der Unternehmer, die zarten der Mädchen. Er klopfte dem Strassenkehrer auf die Schulter, er lauschte seinem Volk aufs Maul. Keine Party war ihm schrill genug, um sich dort nicht zu zeigen. Alles ging darum, dass ihm die Leute vertrauten – und sie taten es.

War der kleine Mann von der Strasse ausser Rufweite, hing der Politiker wie ein Business-Junkie am Handy, Assistenten umschwirrten ihn, er schuf kompromisslose Unterwürfigkeitsloyalitäten. In jeder Minute wurden Geschäfte gemacht, politische Ränke geschmiedet, Budgets verwaltet. Der Politiker verbreitete um sich herum wohl die lockere Athmosphäre einer rauschhaften Party, bei sich die Arbeit wie im Flug erledigt. Doch täuschen wir uns nicht! Er perfektionierte seine Duplizität, mal als gütiger Vater, mal als rebellischer Sohn aufzutreten, und er verwandelte so jeden Auftritt in etwas Extremes, in das Risko, seine eigenen Grenzen zu überschreiten.

Das machte ihn glücklich. Er erfüllte das Amt, das er innehatte mit der Inbrunst eines Schauspieler, und sein Clan und seine Partei griffen ihm unter die Arme, als ginge es darum für ihn das Oval Office im Washington zu erobern.

Euphorie 3: Zu den bedeutensten Trophäen des Siegers im Krieg der Männer gehören die Frauen der Besiegten. Nicht irgendwelcher Frauen natürlich, sondern die Jungen und Schönen, die Hetären und Madonnen. Unser Politiker war in diesem Punkt ein Patriarch alter Schule, voll narzisstischer Selbsterfüllung, ein autorisierter Monarch, der auf jedem Kirchtag stracks auf die Dorfschöne zuging und sie mit einem »Gemma!« auf den Tanzboden kommandierte.

Es war, wie gesagt, ein zurückgebliebenes Land. Dort wurde das von einem Politiker seit jeher verlangt. Tausende Fotos zeigen unseren Helden mit blondierten Stars und miniberockten Sternchen im Blitzlicht. Er badete so oft es ging in diesem Jungbrunnen der guten Laune, und die Töchter seiner politischen Gegner waren wie begehrte Rubine darin. Wundert es uns da noch zu erfahren, dass ihn eines der letzten Bilder mit der gutgebauten Tochter eines geschlagenen Konkurrenten zeigt?

Euphorie 4: Nein; genausowenig wundert uns sein Interesse an zarten, jungen Männern – beim anschliessendem Absacker im Nachtleben der Hauptstadt. Seit vielen Jahren versuchten ihm Gegner Gerüchte über seine angebliche Homo- oder zumindest Biosexualität anzuhängen. Die Energie zu einer solchen Karriere musste doch irgendwo eine ungewöhnliche Liebesleidenschaft abwerfen.

Tatsächlich war tagsüber sein Hang zu jungen Männern ja nicht zu übersehen: die Rede von der »Buberl-Partie« seiner jungen Sekretäre wurde sprichwörtlich. Umgekehrt verehrten ihn seine Mitarbeiter als »unersetzlichen Freund« und »Lebensmenschen«.

Für meine Studie spielt es keine Rolle, welcher sexuellen Orientierung er war, ob er Strichjungen kannte oder sich nur unreflektiert an der Homoerotik männerbündischer Bergkameraden erfreute. Faktum ist, dass der Politiker in besagter Nacht zumindest die Nähe gleichgeschlechtlicher Erfahrung genoss. Die Begegnung mit jungen Männern in einem Nachtlokal muss ihm eine Variante des Spiegelbildes geboten haben, die ihm das Gegengeschlecht nicht bieten konnte. Die Männer, in denen er sich wiedersah – sie waren ein für seinen Narzissmus schlicht unverzichtbarer Kick.

Das also ist der vierte euphorische Push in dieser langen Oktobernacht: die Begegnung mit einem zartbeflaumten Jüngling im Rotlicht. Und es ist ganz einerlei, wie diese Begegnung seine Fantasie bei der Heimfahrt anstachelt. Er war auch an diesem Abend wieder bis an seine Grenze gegangen, er hat sich ein Phantom einverleibt, er hat sich in einem anderen erkannt.

Trauma-Areal 1: Ich komme jetzt auf das erste Traumta zu sprechen, sagte Dr. Tsederbaum. Dabei ist es gar nicht notwendig, meine Argumentation mit der Trieblehre zu verknüpfen.

Nur fünfhundert Meter entfernt vom der Unfallort liegt die Stelle, an der der Politiker bereits vor 15 Jahren einen schwere Unfall mit Totalschaden hatte. Die Bilder gleichen sich. Auch damals hat er sein Fahrzeug selbst gelenkt, hat in einer Kurve die Lenkradkontrolle verloren und sich über eine Böschung hinab überschlagen. Auch damals war er unter Stress gestanden, nur war er in die Gegenrichtung unterwegs gewesen, er eilte von zu Hause in sein Büro, und über seinem Kopf hatte ein mächtiger Schutzengel seine Flügel gebreitet.

In der Todesnacht raste er nun in seiner schwarzen Limousine imaginär auf den ehemaligen weissen Dienstwagen zu – jenen BMW 740i, Baujahr 1992, in dem er damals überlebt hatte. Der Wagen war teilweise gepanzert gewesen.

Gab es einen Wiederholungszwang? Schwer zu sagen. Was wir wissen ist, dass jeder Überlebende ein Trauma mit sich herumschleppt: nämlich die Furcht das eigene Glück nicht verdient zu haben. Und er war so ein Surviver – war gleich nahe am Tod wie an der Unsterblichkeit gewesen.

Nun würde er in wenigen Augenblicken auf sich selber treffen, seine Gegenwart auf seine imaginierte Vergangenheit. Für den Bruchteil einer Sekunde mag er sich selbst in der irreduzible Asymmetrie von Leben und Tod erschienen sein.

Trauma-Areal 2: Wenn Sie mir soweit zu folgen können, will ich Sie zum Abschluss noch einmal auf dem Boden von libidinösen Antagonismen führen.

Meine Hypothese ist, dass die psychische Unfallneigung extrem hoch war. Unter der Erinnerung an den ersten Unfalls, unter dem Überlebens-Trauma, war noch ein anderes Tiefengeschehen aktiv. Ich habe bisher neun Aspekte dieses Falls skizziert, sagte Dr. Tsederbaum und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Worte an der Wand: Sicherheitsimpulse, Momente der Selbstentgrenzung, euphorische Reize und ein verschüttetes Trauma.

Jetzt sage ich: Durch einen örtlichen Zufall wurden diese neun
Linien des Schicksals von einer zehnte gekreuzt. Das Schlüsselwort ist hier Friedhof. Nahe der Strasse und dem Unfallort, müssen Sie wissen, lag ein Friedhof – ein Friedhof, auf dem ein paar Tagen davor der wichtigste Amtsvorgänger des Politikers begraben worden war. Und er, der Amtsnachfolger, war in der ersten Reihe der Trauergäste gestanden.

Dieser Tote war sowohl Vorbild wie Gegner gewesen. Es ist eine lange Geschichte, und eine Pointe darin lautet: Auch dieser Tote war ein Überlebender gewesen; er hatte einstmals das Attentat eines Wirrkopfes in einer politisch aufgeheizten Stimmung überlebt.

Die Situation ist für einen Analytiker also sehr komplex. Am damaligen Attentat trug unser Politiker direkt keine Schuld. Wohl aber an der aufgeheizten Stimmung davor und an der Stimmung danach, die einen Justizskandal möglich machte. Der Täter ging nämlich beinahe straffrei aus.

Es ist wichtig, sich klar zu machen, an welchem Grab unser Mann in dieser Nacht in seiner emotional bereits überbelasten Situation vorbeisegelte.

Es geht hier um den fluiden Anteil an einem Mordversuch, sowie um die Niederhaltung einer Gegenübertragung. Entschuldigen Sie mein Abgleiten ins Fachvokabular. Man kann es natürlich auch einfacher sagen: Es lag etwas Tragisches in dieser Beziehung der beiden Politiker, die beiden Männerschicksale spiegelten einander.

Der Verunfallte hat das Attentatsopfer politisch zweifach beerbt: er nahm ihm Wähler und Amt. Dabei muss eine weitere Übertragung auf sein Vorbild stattgefunden haben. Solange der Alte fortan unter den Lebenden weilte, war er unserem Mann ein lebendiger Stacheln im Fleisch. Dieser Übervater, der zugleich ein Bruder im Überleben war, sagte gewissermassen: »Ja, geh ruhig hin, lote deine Grenzen aus – aber überschreite sie nicht noch einmal!«

Seit ein paar Tagen war nun diese innere Stimme im Politiker verstummt, der Pfahl war weg. Der Alte lag dort hinter den Bäumen, – rechts vom Fahrbahnrand. Der Alte war weg, doch der überaus erfolgreiche Nachfolger fühlte sich nicht frei von ihm. Er ertrug möglicherweise die Vorstellung nicht mehr, wie viele Tragödien er hätte verhindert werden können, wenn nur er da und dort ein wenig anders gehandelt hätte.

Vom Friedhof aus lief also eine unsichtbare Linie im Boden, erst gerade gegen Osten, sie krümmte sich dann ein wenig auf die südlichen Berge zu und querte just an der Stelle die Fahrbahn, an der für einen tödlichen Augenblick alle Hemmisse vom Politiker abfielen. –

Oh, ich habe überzogen, sagte Dr. Tsederbaum mit gespielter Unschuldsmiene. Sie faltete ihr Redemanuskript, nickte höflich in den Applaus hinein und erwartete die Fragen aus dem Publikum.

© Wolfgang Koch 2008
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