vonWolfgang Koch 14.02.2009

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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1. Platz: ALBUM der Tageszeitung »Der Standard«, Redaktion: Christoph Winder

Das Album kann sich diese Woche erstaunlicher Weise auf dem ersten Platz halten und liegt damit in der Gesamtwertung auf Rang 2. Die neue Ausgabe enthält zwar nicht nur wertvolle Texte, diese aber sind dafür spannender als alles, was die Konkurrenten diese Woche zu bieten hat.

Die katholische Kirche ist im Gerede. Diesen Moment nutzt das Album, um einen penibel erzählten Bericht über das Annullieren von Ehen vor Diözeangerichten zu bringen. Autor: Johann SKOZCEK. Die Sache mit den Schweigegelöbnissen, den windigen psychiatrischen Gutachten und den doppelzüngigen Kirchenfunktionären ist nicht unbedingt neu. Aber hier wird an einem guten Beispiel zeitgerecht die unverforene Seite des römischen Katholizismus gezeigt: der totalitäre Machtanspruch über die Gläuben.

Sehr gut auch eine Bücherschau zum Thema Kaukasus nach dem Krieg in Georgien von Markos BERNATH. Der Rezensent begrüsst ausdrücklich die Schreibhaltung des Bestsellerautors Jonathan LITTELL. Gegenüber den sicherheitspolitischen Modellen aus der Denkwerkstatt Erich REITERs wäre aber mehr Skepsis angebracht.

Endlich muss auch mal der SCHMÖGER-Comic gelobt werden; weiters eine differenzierte Kritik am veröffentlichten Günter-GRASS-Tagebuch 1990. Der 75-jährige Herbert ROSENDORFER hat ein Lexikon der Unberufe (Bettenschänder, Holzbischof,…) verfasst. Und bei Kinderbüchern möchten wir wissen, für welches Alter sie empfohlen werden.

Schon sind wir bei der Minus-Liste:

Die Reportage über das russische Stahlwerk Magnitogorsk ist im Magazin-Stil gehalten und gehört darum auch in ein Magazin (siehe Extra, 4. Woche).

Die mediale Abwertung der sanierungsbedürftigen ORF-Anlage auf dem Wiener Küniglberg spielt bloss Bauspekulaten in die Hände!

Und die gewiss komischen Erinnerungen von Karl Heinz GRUBER, der in Bergsteiger-Knickbocker zu den Mormonen in Salt Lake City reiste, stammen aus dem Herbst 1962 – Das war, bitte, vor 47 Jahren!

2. Platz: EXTRA der »Wiener Zeitung«, Redaktion: Hermann Schlösser

Das Extra hält sich diese Woche aufgrund einer Lachnummer des Chefredakteurs wacker in der Mitte zwischen Gut und Böse. Auch der rechtslastige Andreas UNTERBERGER, den sich die regierenden Sozialdemokraten als Beweis für ihre »Liberalität« halten, hört die Kirchenglocken läuten. Über zwei volle Seiten nimmt er höchstpersönlich Erzbischof Edmond FARHAT, den scheidenden Apostolischen Nuntius in Österreich, ins Kreuzverhör. – Mein Gott, was haben wir gelacht! »Es kann nicht sein, dass man Babies abtreiben darf«, sagt dieser Kirchenfürst. Nun ja, Babies, also Geborene, nimmt selbst der Gesetzgeber von der Fristenlösung aus. Der umstrittene Linzer Weihbischof Gerhard WAGNER, versichert der mächtige Gottesmann, finde »positiven Anklang bei vielen Jugendlichen« … »Als Mutter und Lehrerin weiss die Kirche, was ihre Kinder brauchen« … »Der Araber ist von Natur aus emotional« … »Ein Priester kann mit seinem Wagen viele Kilometer fahren und auch zwei oder drei Messen lesen. Im Libanon ist das kein Problem« … »Warum läuft das islamische Mädchen hier stolz mit seinem Kopftuch herum, während der junge Katholik nicht einmal mehr ein Kreuzzeichen machen kann?« – Was für ein wunderbarer Faschingsbeitrag! Da wächst einem Luther wieder mächtig ans Herz.

Echter Käse ist der Beitrag zur Hochschuldiskussion von Leander D. LOACKER. Was interessiert uns, wie man auf den Universitäten vor elf Jahren über Powerpoint-Folien dachte. Wenn in einem Text »Absolventen am Fliessband produziert« werden, dann sollte man dem Autor schleunigst den akademischen Titel wieder aberkennen.

Kaum besser, nein: noch vertrottelter ein Generalangriff von Peter STIEGITZ auf Political Correctness. Der Rassismus in Kärnten, so der in Ungarn lehrende Soziologe, dürfe nicht mit zweisprachigen Ortstafeln in die Schranken gewiesen werden.

Der Balkan ist »kein ur-österreichisches Thema« – es sei denn, man meint damit den habsburgischen Imperialismus. Auf diesem blauäugigen Niveau lässt sich die verstorbene Christine von KOHL schwerlich portraitieren.

Den schönsten Satz der Woche lesen wir im Portrait des ehemaligen Geldfälschers und KZ-Häftlings Adolf BURGER, verfasst von Hertha HANUS und Claudia STEFANIZZI-WURZINGER. Die beiden Damen fragen den 90-Jährigen Burger, woher er seine Energie für die vielen Vortragsreisen nehme, und der antwortet: »Ich habe keine Energie, ich will das einfach nur tun«.

Weiters: Ein misslungener Versuch, die anschwellende DARWIN-Literatur zu sichten (siehe Album, 2. Woche, und Extra, 3. Woche).

Jane BIRKIN und Jonny CASH auf der Music-Seite.

Haben Sie gewusst, dass die Dollfuss-Regierung nach den Februarkämpfen 1934 stolz eine Postkartenserie mit Ansichten zerschossener Wiener Gemeindebauten drucken liess?

Und in der Galerie: zwei Objekte des tischlernden Holzextremisten Alfred M. WEBER aus Unterschützen.

Lektüren:

Hermann SCHLÖSSER empfiehlt sehr originell die Relektüre der Bücher von Silvia BOVENSCHEN.

Rudolf-Berhard ESSIG empfiehlt Volker BRAUN. »Ein vertracktes Epos ist das geworden, voll frei flottierender Versifizierung, wobei verhexte Hexameter lustig trappeln«. – Wow! Mehr von diesem Kopf.

Gerald SCHMICKL empfiehlt nachdrücklich 24 närrische Lebenläufe, erzählt vom Wiener Autor Rudi PALLA. Nur, Ulrich HOLBEINs Narratorium, das umfasst nicht über 900, sondern über tausend Seiten (siehe Album, 1. Woche).

3. Platz: SPECTRUM der Tageszeitung »Die Presse«, Redaktion: Karl Woisetschläger

Absteiger der Woche; schwächelt ausgerechnet auf dem Feld, auf dem das Spectrum sonst überlegen punktet: der Literatur.

Die Provinzstadt Linz bläst sich heuer kulturell mächtig auf. Das veranlasst die Redaktion einen kapriziösen Essay der Schriftstellerin Margit SCHREINER abzudrucken. Wir hören, sie habe ein Auto geleast, weil zu ihrer Wohnung ein Parkplatz gehöre; dann von ihrer sexuellen Aufklärung, der ersten Liebe, dem Umgraben der Stadt. Plattheiten: »Jeder Traum bleibt ein Rätsel« … »Ich glaube, dass der Mensch mit 18 fertig ist« … Marzipankartoffel, und dass die Erzählerin 1967 beinahe im Ebelsberger Wald vom Amstettner Kellerjosef vergewaltigt worden wäre. Uff!!

Alfred ABLEITINGER erinnert an die konstituierende Nationalversammlung Deutschöstereichs vor 90 Jahren. Die Nase so platt an den Fakten, dass dabei nichts zu gewinnen ist.

Kurt REMELE versucht auf zwei Spalten die Geschichte der US-Evangelikalen zu erzählen. Ein Dauerbrenner im Wiener Feuilleton.

Und dann, im Vorabdruck, eine unveröffentlichte Erzählung Heimito von DODERERs, in der zwei Ritter für ein Fräulein einen Drachen überwinden. »Da liebte er Lidoine mit allen Kräften der Seele, da wieder hob sich seine Brust vor Fahrtsehnsucht…« – Vielleicht heilt dieses Fragment die Wiener Intelligenz mal von ihrer Doderer-Versessenheit.

Bücher: aktuelle Abraham-LINCOLN-Biografien (siehe Extra, 6. Woche) und ein merkwürdiger Roman Ljudmila ULITZKAJAs über den weltverbessernden Karmeliterbruder Daniel Stein, der Jerusalem wieder zum Zentrum des Christentum machen will.

Immerhin enthält die Spectrum-Ausgabe auch drei gelungene Texte:

Die Spiele-Seite berichtet über erstaunliche Umfrageergebnisse unter 7000 eingefleischten EverQuest-Spielern: sie altern mit ihren Spielen, sind derzeit schon durchschnittlich 31 Jahre alt, weiss, männlich, keine Unterschichtler und eher keine Christen. Interessantes Detail: Kann es sein, dass die lockere Geschlechteridentität im Netz Bisexuelle anlockt?

Franziska LEEB präsentiert ein unbuntes Spitzenwohnhaus der Architekten Eva ČEDSKA und Friedrich PRIESNER in Wien-Liesing.

Und der tolle Brüssel-Korrespondent Martin LEIDENFROST treibt sich im Nachtleben des dortigen Afrikanerviertels Matongé herum. Da sitzt jede Pointe.


© Wolfgang Koch 2009
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