vonWolfgang Koch 05.03.2009

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

1. Platz: SPECTRUM der Tageszeitung »Die Presse«, Redaktion: Karl Woisetschläger

Das Spectrum überrascht gelegentlich durch massive Überlängen von Artikeln – und diesmal sind die vier Seiten für eine Reise, die Gerhard ROTH in das Wiener Uhrenmuseum unternimmt, mehr als berechtigt. Eine feinziselierte Reportage wird da geboten, mit allem, was der Kustos und Wikipedia zum Thema Uhren so hergeben: HAYDN, PROUST, die 270 Tick-tacks der EBNER-ESCHENBACH, usw. usf. – Das einzige, was sich gegen diesen eleganten Text einwänden liesse, ist seine relative Unorginalität. In der Vorwoche brachte die F.A.Z. die überaus spannende Geschichte der einzigen Atomzeituhr der DDR, welche sich heute im Wien-nahen Bratislava befindet. Dem Wiener Feuilleton liegt halt immer der Blick auf sich selber am nächsten … und das in unzähligen Sonntagsreden beschworene Interesse am östlichen Nachbarn ist bloss eine Staffage für Bankengeschäfte und Mädchenhandel.

Ein Beispiel für die lokaltypische Ostalgie folgt auf dem Fuss. Georg Christoph HEILINGSETZER liefert die zirka siebentausendste Reportage aus Lemberg. »Die Zeit scheint stillgestanden seit…« In dem Text existiert eine Grabkapelle, die »wie eine kleine Schmuckschatulle« aussieht und viel anderes unfreiwillig Komisches: »Lemberg erzählt alles leise, mit seinem löchrigen Kopfsteingassen«.

Belanglos auch ein Prosatext des verstorbenen Norbert SILBERBAUER, der sich am Katholischsein reibt. Dass man als Toter jedes Zeitgefühl verliert, nun, das haben wir uns so schon irgendwie gedacht. Aber dass der Herausgeber eines Pfarrbriefes den »Klick mich«-Button auf seinem Bildschirm als »Fuck mich«-Aufforderung liest – nun, wirklich unglaublich das, Sauerei sowas!

Ein schönes, dekonstruktives Gedicht: essen müssen von Sophie REYER.

Ein toller Titel (»Vage Vagina«) für Martin LEIDENFROSTs Erkundungen am Brüssler Strassenstrich.

Bücher: ein Roman von Sibylle LEWITSCHAROFF; ein weiterer von LEIDENFROST (siehe oben); vom der Spectrum-Kritik scharf zurechtgewiesen wird Peter ZIMMERMANNs Abrechnung mit dem Literaturbetrieb; und die Schriftstellerin Barbara FRISCHMUTH empfieht uns Lektüren, die vermitteln sollen, wie in den ersten 35 Jahren nach dem Tod Atatürks in Ankara gelebt worden ist. Wollen wir das wirklich wissen? Genügt uns denn nicht die schöne Wiener Kebab-Bude mit dem einladenden Namen »Mampf« vor der Nase?

Zuletzt noch eine Überraschung zum Liebestöter Charles DARWIN. Gabriele REITERTER vermag nämlich die durch den Naturforscher angeregte »Ideenhybridisierung« bei Gottfried SEMPER, einem Grossarchitekten des 19. Jahrhunderts, plausibel zu machen.


2. Platz: EXTRA der »Wiener Zeitung«, Redaktion: Hermann Schlösser

Am Titel eine Wiedergutmachung für das Faschings-Interview mit dem Apostolischen Nuntius in Österreich (siehe 7. Woche). Das ist klug gedacht: Denn was liegt in Zeiten der römisch-katholischen Glaubenskrise näher, als sich mit Abspaltungen von dieser Konfession zu beschäftigen? Viele Leute denken schliesslich gerade über ihren Kirchenaustritt nach und da will man rechtzeitig über alternative Betschemel informiert sein.

Christian BLANKENSTEIN liefert einen exzellenten Beitrag zur Geschichte und den aktuellen Glaubenpositionen der alt-katholischen Kirche. Der Text ist theologisch informativ, auch wenn wir Laien gerne noch gewusst hätten, was denn das »dreiteilige Amt« und die »apostolische Sukzzession« sind. Etwas schwerer als diese fehlenden Erklärungen wiegt freilich, was uns die Autorenzeile am Ende des Textes verschweigt – nämlich dass es sich bei dem Verfasser um einen schwulen Dissidenten der Altkatholischen Kirche handelt, der mit diesem sehr versierten Beitrag über seine Mutterkirche sicher auch Politik in eigener Sache betreibt.

Klaus HOFMANN will Reality-TV-Formate analysieren und verrennt sich in die Sackgasse des Moralisierens (»reine Profitgier«, »dekadente Entwicklung«).

Kann man Geschmacklosigkeit eigentlich übertreiben? Das jedenfals behaupten in dieser Ausgabe gleich zwei Extra-Autoren (Seite 2, Seite 5).

Ein echtes Steckenpferd der Extra-Redaktion ist der europäische Tunnelbau (siehe 4. Woche). Alexander MUSIK weiss freilich nur die ausgelutschten Experten Hermann KNOFLACHER und Fritz GURGISER zur Brennerbasisröhre zu interviewen.

Juli ZEH ist eine gewiss beachtenswerte deutsche Schriftstellerin, für die Sprache fast das ganze Wesen unserer Existenz ausmacht. Abgedruckt wird im Extra ein typisches Recherche-Interview mit der Berlinerin (Reporter: »Wie verhält sich bei Ihnen Inspiration zu Transpiration?«), das unbedingt zu einem Portrait von halber Länge hätte verarbeitet werden müssen.

Lesenswert dagegen: Wolfgang BAHRs Darstellung des tschechischen Architekten, Mäzen und Sozialpolitikers Josef HLÀVKA. Auf der nächsten Seite erinnert dann Evelyne POLT-HEINZL an den vergessenen Romancier Ludwig RELLSTAB, wobei die Vergleiche der Biedermeierepoche mit der Gegenwart ziemlich überanstrengt wirken.

Zuletzt der Buchstabe »M« im Rezensionenwald: Montaigne, Márais, Majakowski.

3. Platz: ALBUM der Tageszeitung »Der Standard«, Redaktion: Christoph Winder

Der Absturz der Woche. Das Album hat es aufgrund seines Miniumfangs allerdings besonders schwer in diesem Bewerb. Das Coverthema ist brisant, keine Frage: die Au-pair-Verhältnisse in Wien. Doch Autorin Mia EIDLHUBER beschränkt ihre Recherche auf ein einziges Schicksal. Wenn so dürftiger Teig auf zwei Seiten ausgewalzt wird, dann unterlaufen einem eben leicht Sätze, die besser in die U-Bahn-Zeitung gepasst hätten: »Kindermädchen sind ganz nah an den Familien dran«, »Frauen funktionieren untereinander wie ein Netzwerk«. – Wie ein geschwächter Vogel Caffè Latte trinkt, das wollen wir uns gar nicht erst vorstellen.

Ein thematisch ergänzender Text von Elisabeth BECK-GERNSHEIM raunt Allerlei von »aktuellen« und »empirischen Studien«, ohne diese allerdings beim Namen zu nennen. – Frauenthemen sind selbstverständlich wichtig, aber das heisst nicht, dass dieses barfuss daherkommen können.

Der Krisenkolumnist widmet sich Liftbegegnungen in der Wiener Minsterialwelt, wobei dieses Gefährt hier noch als »Fahrstuhl« genamst wird.

Der Architekturkritiker Wojciech CZAJA widmet seinen stark überwürzten Bildersalat dem neuen Grazer Musiktheaterbau: »Auf Knopfdruck geht das Licht an und verwandelt den Dickhäuter in ein zart besaitetes Instrument«. Pfui, Spinne!

Oliver von HOVE erbringt den völlig überflüssigen Beweis, dass die aufgeklärte Leserschaft in einem kampfliberalen Blatt nichts Luzides über Carl SCHMITT (»Reaktionär in des Wortes finsterster Bedeutung«) zu erwarten hat.

Weitere Themen: Der Wiener Feuilleton-Liebling Michael STAVARIČ wird unbegründet gelobt (siehe 1. Woche). Dem monomanischen Alpen-Genet Josef WINKLER, der uns seit dreissig Jahren mit seiner Todesverknalltheit nervt, wird eine »Achtsamkeit des Blicks« unterstellt. Und Arthur FÜRNHAMMER liefert einen reichlich chaotischen Rückblick auf 911 mit unübersetzen Notaten aus einem Notizheft. – Nein, dieses Album reicht nicht für ein gelungenes Lesewochenende.


Punkestand der Wiener Feuilleton-Konkurrenz vor der entscheidenden Schlussrunde:

Spectrum (»Die Presse«): 5x 1. Platz, 3x 2, 1×3. Platz = 22 Punkte.

Album (»Der Standard«): 3x 1.Platz, 2x 2. Platz, 4x 3. Platz = 17 Punkte.

Extra (»Wiener Zeitung«): 1x 1. Platz, 4x 2. Platz, 4x 3. Platz = 15 Punkte.

© Wolfgang Koch 2009
next: SO

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2009/03/05/wiener_feuilleton_9_woche_2009/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert