vonWolfgang Koch 07.03.2009

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die Schlussrunde in der Wiener Feuilleton-Konkurrenz verläuft enttäuschend. In der zehnten Woche bleibt unserer Blattkritik nur die Wahl zwischen grösseren und kleineren Übeln. Die Spectrum-Redaktion wirkt erschöpft und müde, das Album-Team faul, und so trägt eben die Wiener Zeitung als der lachende Dritte den Wochensieg davon.

Das ändert freilich nichts mehr am Gesamtpunktesieg des Spectrums, der sich schon seit einigen Wochen abgezeichnet. Also: Katzengold in die Hainburgerstrasse, je einmal Blech in die Herrengasse und auf den Wiedner Gürtel. Wir gratulieren!

1. Platz: EXTRA der »Wiener Zeitung«, Redaktion: Hermann Schlösser

In der zehnten Ausgabe 2009 finden sich sechs lesenswerte Beiträge: eine Reportage, ein Portrait, drei Rezensionen und die bewährte Fotokolumne – das ist mehr als die Kombattanten zu bieten haben.

Johannes GELICH bereist evangelische Gemeinden im siebenbürgischen Hinterland, in einer Ecke Europas, wo die Schweine noch gesund aussehen, wo herrenlose Pferde herumlaufen und Gasflaschen im Kinderwagen heimgekarrt werden. Wissen Sie, warum rumänische Polizisten stets zu Dritt in Erscheinung treten? – Nein? Dann müssen sie diese Reportage lesen.

Der Fotohistoriker Anton HOLZER macht uns klar, dass Hochzeitspaare von heute eigentlich wie Schauspieler agieren.

Unter dem grauenhaften Titel Irland, Familie, Liebe und Tod ist ein perfektes Portrait der Dubliner Schriftstellerin Anne ENRIGHT aus der Feder von Jeannette VILLACHICA zu lesen.

Sehr gut auch die sorgfältige Auswahl von Rezensionen: ein niederösterreichisches Mundartlexikon; Roberto SAVIANOs süditalienische Mileustudien und ein tolles Vaterbuch von David WAGNER bei Droschl.

An Michael STAVARICs neuem Roman werden falsche Konjunktive bemängelt und dass er nichts wirklich Neues zur Geschlechterfrage zu bieten habe (siehe 1. und 9. Woche).

Zu flach: ein Text über die Madonna der Kinderzimmer, das ewige Glamourgirl Barbie.

Zu brav: eine Vorschau auf die Leipziger Buchmese.

Der Wahlwiener Dietmar GRIESER, der eine Ein-Mann-Schreibfabrik im 3. Bezirk unterhält, feiert seinen 75. Geburtstag. Aus diesem Anlass hätte sein Schaffen durchaus eine kritische Würdigung verdient – schliesslich ist dieser Historiker mitverantwortlich an der intellektuellen Selbstverkitschung Wiens. Statt dessen langweilt er uns über zehn Spalten in einem doppelseitigen Interview (Kostprobe: »Nichtstun ist etwas, was ich noch lernen muss«).

Der literarischen Figur Peter ALTENBERG, deren Geburtstag sich auch schon wieder jährt, wird im Extra kein Jota mehr abgewonnen als im Album (siehe unten).

2. Platz: SPECTRUM der Tageszeitung »Die Presse«, Redaktion: Karl Woisetschläger

Eine sehr mutige Idee: die niederösterreichische Kleinstadt Amstetten unmittelbar vor dem Prozess gegen den nunmehr weltberühmten Kellerfritzl portraitieren zu lassen. Doch der Essay von Gerhard ZEILLINGER, der »Tiefenschichten ergründen« will, humpelt bloss dreisten Presseberichten hinterher, beschwichtigt unser Gemüt da ein bisschen, um es im nächsten Absatz wieder ein bisschen zu hysterisieren (»Hitler ist bis heute Ehrenbürger der Stadt«). Verschenkt!

Der Brüssel-Korrespondenz Martin LEIDENFROST wagt erstmals über politische Inhalte zu schreiben, und schon ist er ausgerutscht.

Aktuelle Kairo-Impressionen von Wolfgang FREITAG lesen sich, als wäre der Autor von der ägyptischen Tourismuswerbung nach dem Bombenanschlag vom 22. Februar zu einer eiligen PR-Tour ins Land geladen worden.

Solide: die Widerstandsgeschichte des jüdischen Partisanen Jack KAGAN. Sie wird gerade durch die Hollywood-Mangel gedreht. Man erschreckt nur immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit Holocaust-Überlebende das Wort »selektieren« in den Mund nehmen.

Weiters: ein Verriss von Salam RUSHDIEs neuem ROMAN (»routinierter Mummenschanz«); Bücher zum Haydn-Jahr; ein dickes Lob für die attraktive TV-Moderatorin und Jugendbuch-Debütantin Sarah KUTTNER.

Die Architekturkritikerin Judith EIBLMAYR lobt eine terrassierte Prachtvilla im französischen Landhausstil mit Dachatelier am Schafberg. In Wien wollen die Reichen schliesslich mal herzeigen, was sie besitzen.

Und Greser & Lenz bieten einen messerscharf treffenden Cartoon zum Wahlerfolg des Negerwitz-Landeshauptmanns und Saualm-Kapos von Kärnten (»I bin jetzt seit dreiahalb Jahr Naga…«).

3. Platz: ALBUM der Tageszeitung »Der Standard«, Redaktion: Christoph Winder

Das Album dieser Woche ist aus Buchvorabdrucken und Rezensionen zusammengestoppelt. Nein, das ist es nicht, was wir Leser von Feuilleton-Redaktionen verlangen! Wir wollen Orginalbeiträge lesen, die von Redakteuren unseres Vertrauens bearbeitet wurden – und nicht von anonymen Verlagslekoraten.

Keine Frage, Wilhelm GENAZINO ist ein grossartiger Schreiber. Wie dieser Leihautor des deutschen Grossfeuilletons das Wiener Kaffeehäferl Peter ALTENBERG einschenkt, das sucht an diesem Wochenende seinesgleichen. Freilich, was Genazino inhaltlich über Altenberg zu sagen hat, ist schon weit weniger souverän. In den letzten Jahren hat sich das Bild vom sensiblen Frauenkenner ja als unhaltbar erwiesen; die feministischen Studien zu diesem Thema hat Genazino offenbar nicht einmal wahrgenommen.

Ein weiterer Feuilleton-Industrieller, Karl-Markus GAUSS, zerpflückt einen Balkan-Roman von Aleksandar HEMON. Viel zu lang!

Von Robert MENASSE wird eine Meditation über den Begriff der »deutschen Wiedervereinigung« vorabgedruckt. Auch zu lang.

Den ängstlichen Krisenkolumnisten Christoph WINDER, der als angestellter Redakteur vermutlich dreimal soviel verdient wie der Durchschnittsösterreicher, plagt die kokette Vorstellung, er werde in Zukunft Schweine in seiner Stadtwohnung halten müssen.

Von dem ansonsten so kritischen Franz SCHUH müssen wir ein komplett unkritisches Vorwort zu einer Kolumnensammlung von Kurt PALM (siehe 1. Woche) hinnehmen.

Daniela STRIGL lobt die mit »verstörende Akribie« beschriebene Sexszenen im neuen Roman von Clemens J. SETZ und zitiert dann doch lieber Prosasätze über Mütter und Füsse (siehe Spectrum, 5. Woche).

Superplus: drei informative Rezensionen von gewitzten Bücher (Collagen, Kinderbuch, Fundstücke).

Die Serie Mein Amerika (womit die USA gemeint sind) endet, als würde das Land real gar nicht existieren, nämlich mit einer 911-Fiction von Zdenka BECKER.

Endstand der Wiener Feuilleton-Konkurrenz nach zehn Runden:

Spectrum (»Die Presse«): 5x 1. Platz, 4x 2. Platz, 1x 3. Platz = 24 Punkte.

Album (»Der Standard«): 3x 1. Platz, 2x 2. Platz, 5x 3. Platz = 18 Punkte.

Extra (»Wiener Zeitung«): 2x 1. Platz, 4x 2. Platz, 4x 3. Platz = 18 Punkte.

© Wolfgang Koch 2009
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