vonWolfgang Koch 24.04.2009

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Es gibt Bücher, die fehlen; dass sie uns gefehlt haben, so lange es sie nicht gab, merken wir erst, wenn sie einmal da sind. Genau so verhält es sich mit dem vorletzten Buch des östereichischen Schriftstellers Hanno Millesi. Ich weiss, man könnte bereits sein neuestes Werk besprechen (den Roman Mythenmacher), aber das Aktualitätsgebot des Buchhandels ist mir gleichgültig, wir wollen mit der Reich-Ranitzky-Industrie nichts zu tun haben.

Hanno Millesi ist ein in Wien lebender Autor der mittlereren Generation. Er stammt, wie der Dramatiker und Lyriker Peter Turrini, aus einer Kärntner Familie mit italienischen Wurzeln. Und er schreibt Bücher in Augenhöhe von deutschen Kollegen wie David Wagner und Jochen Schmidt – blitzgescheit und witzig, proustianisch verspielt und geheimnisvoll, sprachlich genau und randvoll mit gedankenschwerer Schlaflosigkeit.

Die genannten Schriftstellerkollegen sind natürlich kein Zufall. Auch David Wagner hat ja unlängst ein vielbeachtetes Buch zum Thema Kindsein vorgelegt – die Summa der sechsjährigen Beobachtungen eines schreibenden Vaters an seine Tochter. Spricht das Kind von David Wagner ist ein herzzerreissendes Buch, (wenn man von den Grammatikfehlern absieht), in ihm tastet sich das Erzähler-Ich durch die Welt der leiblichen Tochter hindurch in das eigene, verschüttete Kindheitsland vor.

Millesi geht zwar im Grund denselben Weg – gelangt aber zu verblüffend anderen Ergebnissen. Hier streift der Autor seine Intelligenz, seine Bildung, seinen zersetzenden Erwachsenenblick nicht ab, um ein grosses Mutterleuchten zu mystizifieren, hier hält der Autor ausdrücklich an der Kritikfähigkeit fest und übereignet sie Kindern, den Protagonisten seiner Erzählungen.

Das Ergebnis: zehn Texte, in denen sich die Kinderpsychen stets weit über die der Erwachenen hinausstrecken. Am Ende des Tages erscheinen dann die Grossen und ihre Verbrecherwelt als das, was für gewöhnlich Kindern zugeschrieben wird: nämlich naiv und kindlich zu sein, launenhaft, impertinent, albern, störrisch, boshaft, gewalttätig,…

Um glaubwürdig zu machen, dass diese Kinderfiguren klüger und weiser als Erwachsene sind, sich bloss dümmer als diese geben, stellt sie Millesi mitten hinein in eine extrem feindliche Lebensumwelt. Über die pardonlosen Realität herrschen Erwachsene, die sich mit hunderten schmutzigen Tricks gegen ihr Erwachsenwerden wehren. Wir landen in einer Ära, in der eine ausgeprochene Neigung besteht, das ganze Leben als eine endlos prolongierte Pubertät aufzufassen. – Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

Der Klassiker, die Standardsituation: Ein Kleinkind wähnt sich unter den Augen seiner Eltern in einem Überwachungsstaat, im Fadenkreuz der elterlichen Fürsorge. »Selbst wenn sie sich den Anschein geben, mich nicht weiter zu beachten«, klagt das Kind, »ist der Wahrnehmungsapparat meiner Eltern mit jeder Faser auf mich konzentriert«. Einem solchen, analytisch vorgehenden Sprössling entgeht absolut nichts: es leidet unter seiner Skepsis, seinem fortwährendem Denkzwang. Das Kind erkennt z.B., dass beim Spielzeug nicht etwa das Vergnügen im Vordergrund steht, sondern die Frage, wie es, das Kind, auf ein jeweiliges Produkt reagiert.

Die Kiddies durchschauen manches, wenn nicht alles in diesen Erzählungen. Sie durchschauen, dass sie, die putzigen Zwerge, hauptsächlich der Abwechslung im langweiligen Leben zweier Erwachsener dienen; dass sie, die Kinder, dazu missbraucht werden, der Existenz von Erwachsenen einen höheren Sinn zu geben; dass Eltern mit der Wahl des Namens für das Kind etwas über sich selbst sagen wollen; dass Erwachsene nur in den Augen anderer Erwachsener vorbildliche Eltern abgeben wollen, usw. usf. – desillusionierte Kinder in einer düsteren Welt, in der die Wirklichkeit unaufhörlich durch Rhetorik behübscht wird.

Die Erzählung mit dem unverfänglichen Titel Massnahmen verführt den Leser zunächst zur probeweisen Einfühlung in eine masochistische Bestrafungslust: ein Kind hat im Supermarkt etwas gestohlen. Am Ende reisst die Verdunkelung, die über dem Ganzen liegt, auf und die Eltern des Bengels verprügeln völlig überraschend den Filialleiter in einer wahren Gewaltorgie, weil es dieser Mann in einem Anfall von väterlicher Fürsorge gewagt hat, dem beim Diebstahl ertappten Jungen eine pädagogische Ohrfeige zu verabreichen. Die Leserschaft wird also zunächst auf eine falsche Fährte gelockt und lernt bei Millesi an sich selbst, wie nachgelebter Masochismus unmerklich in Sadismus umschlägt.

Hier wird die Lektüre zur Erfahrung, und etwas Gewichtigeres lässt sich über Literatur wohl kaum sagen. Millesis Sprache ist zu diesem Zweck stets sehr genau konstruiert und scheut auch vor veralteten Ausdrücken (Machenschaften, Manieren, seit jeher, jemandem schwant etwas) nicht zurück.

In der titelgebenden Erzählung behandelt der Autor die berühmte psychoanalytische Fragestellung, wieviel wir als Kleinkinder vom Koitus der Eltern mitbekommen. Die ersten drei Seiten dieses Textes hätten Anna Freud und Melanie Klein wohl hellauf jubeln lassen. Wie immer bei Millesi gerät aber auch diese Geschichte zu einer irrwitzigen Groteske – und zwar, als sich herausstellt, dass der elterliche Koitus in Wahrheit die einverständig vollzogene eheliche Gewalttätigkeit des Vaters an der Mutter ist. Zitat: »Meine Mutter unterdrückte mit Sicherheit den ihr abverlangten Schmerzensschrei und verwendete all ihre Konzentration darauf, geräuschlos zusammenzubrechen und aufzuschlagen«.

Man wird nicht unbedingt glücklich bei dieser Lektüre; sie beruhigt so wenig wie ein Hurrikane unterm Sofa. Der Autor ist unberechenbar und liefert mit Wände aus Papier eine Herausforderung für jedes politisch korrekte Bild von der Kindheit. Wir kennen aus der antipädagogischen Literatur der letzten Jahre nichts, was so fulminant an Barbara Frischmuths Amoralische Kinderklapper (1969) anknüpft wie dieses Buch.

Millesi vertraut seine fantastische Prosa übrigens keinem Grossverlag an. Das hat er mit Autoren wie Christian Zillner (Dornröschen Verlag) und Jochen Schmidt (Voland & Quist) gemeinsam. Alle drei bringen ihre Texte lieber bei Kleinverlagen heraus, die sorgfältig arbeiten und mit ihren Talenten mitzuwachsen versuchen. Das hat etwas mit einer neuen Generationensolidarität zu tun und mit der zutiefst berechtigten Abneigung gegen die PR-Lügen des Buchmarkts. Zur Hölle mit den Bestseller-Factories, es lebe die Literatur!

Hanno Millesi: Wände aus Papier. 152 Seiten, ISBN 978-3-902373-19-9, Wien: Edition Luftschacht, 16,90 EUR

© Wolfgang Koch 2009
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