vonWolfgang Koch 19.02.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

 Das neue dreibändige Werk ist für die Nitsch-Forschung, als deren Zentren sich gegenwärtig Wien und Neapel hervortun, sicherlich unverzichtbar. Auf über tausend Seiten versucht der Künstlerphilosoph mit einer wirklich bemerkenswerten Vervollkommnungsfähigkeit zwei ältere Anläufe seines schriftstellerischen Schaffens zu übertreffen.

Nitschs selbstreferentielle Texte mit philosophischem Inhalt datieren zurück bis zum Ende der 1950er-Jahre. Im Vordergrund standen zunächst wortschöpferische Pamphlete und die gemeinsamen Manifeste der vier Wiener Aktionisten. 1976 veröffentlichte Nitsch dann im Verlag Chiessi und Morra (Neapel/ München) den zweiteiligen Text »zur theorie des o.m. theaters« (neu aufgelegt als »o.m. theater lesebuch« der Freibord-Sonderreihe Nr. 17, Wien 1985).  

Hermann Nitschs erster Versuch, im Raum des verschriftlichten Denkens Fuß zu fassen, beinhaltete 928 Seiten. Den zweiten Anlauf »zur theorie des orgien mysterien theaters« unternahm er dann fast zwei Jahrzehnte später: 1995 erschien seine, nun über 965 Seiten ausgebreitete Seinsphilosophie in komplett neuer Fassung unter dem gleichen Titel im Salzburger Residenzverlag.

2009 unternahm der österreichische Gesamtkunstwerker bei Styria den dritten Vorstoß ins Land der vernetzten Begriffe. Wieder liegt die Textlänge um die 1000-Seiten-Marke. Nur der Abstand, in dem Nitsch ein weites Konvolut seiner unbedingten Reflexion ausgeworfen hat, der hat sich um Einiges verkürzt. Zwischen dem zweiten und dem dritten Versuch lagen nur mehr 14 Jahre.

Hermann Nitsch zeigt eine deutlich erhöhte Produktivität mit fortschreitendem Alter. Das lässt sich auch an den auf Schloß Prinzendorf realisierten Mysterienspielen zeigen. Zuerst fand das Eintages- oder, wie es offiziell heißt: das Vierundzwanzigstundenspiel (50. Aktion) 1974 statt. Zehn Jahre später folgte – wieder mit einem enormen Materialaufwand, mit Hunderten von Mitwirkenden und Zuschauern (Spielteilnehmer) – das Dreitagespiel (1984); weitere 14 Jahre darauf das Sechstagespiel (1998). Vom ersten Sechstagspiel zum Zweitagspiel (2004) pausierte man nur mehr sechs Jahre; und vom Zweitagespiel zum derzeit für 2011 geplanten zweiten Sechstagespiel wären es sieben Jahre.

Stellt man nun diese Spieljahre von 1974, 1984, 1998, 2004 und 2011 der voluminösen Theorieproduktion von 1976, 1985 und 2009 gegenüber, so fällt auf, dass sich Nitsch immer in den Zeiträumen zwischen den großen Daseinsfesten verstärkt der Schriftstellerei zuwandte. Das letzte Opus begann er nach dem Sechstagespiel von 1998 zu schreiben.

Ganz offensichtlich drängt den Mann die Realisierung großer Partituren im Nachhinein zur theoretischen Reflexion seines Theaters. Die in der Aktion erschütterten Gemütsbewegungen müssen durch schriftstellerische Leistungen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.

Was sich in den drei historischen Schritten der Theoriebildung nun inhaltlich geändert hat, wo jüngere Gedanken des O.M. Theaters auf ältere aufbauen, wo Ideen einander in die Quere kommen, ab der nächsten Folge dieser Serie.

© Wolfgang Koch 2010

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2010/02/19/das_sein_von_hermann_nitsch_2/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert