vonWolfgang Koch 02.03.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Jeder Strom erzeugt in sich Strudel und Gegenströmungen. Dem alten Menschheitstraum von einer großen, alles umfassenden Harmonie setzt Hermann Nitsch den Traum von einer absolut übermächtigen Harmonie entgegen – so beherrschend, dass sie auch alles Negative, Beunruhigende und Katastrophische mit in sich einschließt.

Wieder sind es Architekturutopien, Stätte der Gerechten, ein chiliastischer Kult, aber in den Gemeinschaftslagerhäusern, in denen jeder nimmt, was er braucht, wird neben dem Glück auch noch das ganze Unglück der Welt miteingelagert: vom Ausrutschen auf der Bananenschale bis zur Explosion der Gestirne.

Im Textsteinbruch des 1. Bandes lassen sich bald drei eng verwobene Begriffskonstellationen erkennen. Am SEIN hängen die Begriffe Dasein und Nicht-Dasein, das Ereignis, das Werden (inklusive der Kunst). Am ICH baumeln Wahrnehmung, Registration und Bewusstsein. Und an das SELBST knüpfen die Erhöhung des Menschen, die Leere (also wieder das Nichts) und die Form (also wieder die Kunst).

Dieses familiäre Muster von drei Existenzbegriffen entspringt bei Nitsch einer simplen psychologische Beobachtung: Jeder Mensch kann sein Bewusstsein als etwas zur Außenwelt Gehöriges wahrnehmen. Das geschieht gewöhnlich im Rausch, im Schock, bei einem Unfall oder in der Meditation. Der außerkörperliche Bewußtseinszustand lässt sich aber auch in gewissen hellen Momenten des Alltags gewinnen.

Der Ort, von dem aus das eigenen Bewußtsein als etwas Äußeres erlebt wird, wird von Nitsch als »leer« beschrieben; er ist und bleibt ein merkwürdig gegenstandloser Grund: der »ruhende« Registrationshintergrund. Von diesem grundlosen Grund aus projiziere ich alles auf mein Sein. Gong!

Ob die Erde eine Scheibe ist, von einem Ozean umflossen, oder ein Partikel im unendlichen Weltall – Alles was bleibt, ist das Sein. Gong! … Alles, woran wir uns in unserer kosmischen Geworfenheit anhalten, ist das Sein. Ein Schlag auf den Planeten-Gong stimmt unsere Gedanken auf Sonne, Mond und Sterne.

Man ist nicht Urbanist oder Reisender, sondern dank der philosophischen Sätze eine Art Weltschöpfergott, sich niemals in sichtbarer Gestalt zeigend, denn das Göttliche gilt als etwas, was das menschliche Maß übersteigt. Totale Gegenwart offenbart die Ewigkeit des Seins. Was diese basale Erkenntnis betrifft, unterscheidet sich Nitschs Spätschrift in nichts von den philosophischen Erstanläufen 1976 und 1995.

Neu hinzu treten lediglich SF-Passagen, in denen der Autor jetzt noch lauter von der Intensität des Weltalls schwärmt. Weiters ein kleines Rauscheinführungseminar beim Heurigen (»der Rausch als Ereignisprinzip«, »der Fruchtzucker als Auferstandener«).

Nitsch ist eben, das macht er damit noch einmal deutlich, nicht nur ein Kind des 19. Jahrhunderts, ein unbestechlicher Kenner der Kollektivträume, sondern eben auch ein Kind der 1970er-Jahre: Deep Listening, Obertöne, Nada Brahma.

Den trockenen Kategorien der Schulphilosophie ergeht es selten gut bei ihm. Sie werden zwar nicht misshandelt, aber deutlich ignoriert. Nitsch verwirft die Seele, den Geist und auch gleich deren Antidot, die Materie; kritisches Vokabular wie Widerspruch, Antagonismus oder Dialektik nimmt er nicht einmal in den Mund, so sehr klingt es ihm nach angestrengter Zuspitzung des diskusiven Verfahrens. Selbst ein Innen und ein Außen soll es im anthropomorphen Umfassungstaumel nicht geben.

Widersprüche freilich kann man aus dem Denken entfernen, aus der Realität nicht. Widersprüchlich sind z. B. Nitschs Aussagen zur alltagsfernen Kategorie der Ewigkeit. Mal wird sie durch zeitliche Dauer unendliche Male zerstückelt (85), dann wieder erscheint sie auch, wenn nichts ist (254). Immer wieder wirken einzelne Postulate nicht konsistent genug; immer wieder rächt sich das Gucken in den Sternenhimmel.

Kann es z.B. einen Begriff von etwas geben, bevor es sich überhaupt definiert? Bei Nitsch, ja. Aber das Sein ist beim Denken bitte immer noch dem Gedanken unterworfen, und nicht umgekehrt. Die Kultur und damit das Denken existieren nur, indem sie das ontologische Argument zulassen.

Andrea Emo hat das einmal so formuliert: »Wenn das Denken ein Seiendes denkt, ein Etwas, das es nicht geben kann, das größer ist als es selbst, dann denkt es das Denken selbst – das nicht Denken sein könnte, wenn es nicht das größte, das universalste, das absoluteste wäre, was es gibt«.

Ein anderes Beispiel für einen argumentativen Notstand im 1. Band: Lässt sich am Sein auch etwas begreifen, das man nicht begreift, wie Nitsch das auf Seite 142 behauptet? – Kaum. Man muss nur einen Augenblick innehalten und sich die Metaphorik der Händigkeit (Begriff, begreifen, Ergriffensein, usw.) bewusst machen, um zu erkennen, dass hier die Sprache beim Philosophieren reichlich überstrapaziert wird.

© Wolfgang Koch 2010

Hermann Nitsch: Das Sein. Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. 3 Bd. im Schuber, 1186 Seiten, ISBN 978-3-222-13271-1, Styria Verlag 2009, EUR 140,-

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