vonWolfgang Koch 10.03.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die Menschheitsgeschichte hat sich im Gral-Mythos symbolisch zum Selbst transformiert. – Mit dieser These schloss Nitsch den 1. Band seines philosophischen Privatissimums ab, und damit ist auch bereits der Grundton des 2. Bandes angestimmt. Wir tauchen nun für 300 weitere Seiten ein in die Mythenarchäologie des O. M. Theaters.

Neu ist hier wenig; sehr wohl allerdings, dass vor der literarischen Vernunftverschwendung auch Warnschilder aufgestellt werden. Erstmals weist Nitsch dezidiert auf die Abgründe seiner Tiefenbohrungen in der Geschichte des kollektiven Bewusstseins hin: »Das Puzzlespiel mit den Mythen hat auch seine Gefährlichkeit, kommt einem Infragestellen des Mythischen gleich, stellt Intensionen in Richtung eines Ausbruches aus dieser Ordnung dar«. Der Wirklichkeitsverlust durch Schizophrenie, so Nitsch, liege beim Tiefen-Jargon in der Luft.

Auf Seite 403 begründet der Autor, warum er sein mythenarchäologisches Graben relativiert und eine moderate Haltung zu gewinnen sucht: Er, sagt Nitsch, habe mit der gegenständlichen Schrift über das Sein von drei Dingen seiner früheren Kunsttheorie wegkommen wollen: (1) von der Aufpflanzung der Sinnlichkeit, (2) von analytischer Dramaturgie, und (3) von der Auseinandersetzung mit der Mythologie, also von Kult und Ritual.

Das sind durchaus überraschende Neuigkeiten. Das dramatische Aufeinanderschichten von Mythen galt ja bis dato als Herzland des Orgienmysteriums. Nitsch verwirft es auch nicht wie einst die Abreaktionstheorie; man plant ja im Augenblick ein neues Sechstagespiel in Prinzendorf – vielmehr versucht er die aus den Untiefen des kollektiven Bewusstseins stammenden Formen nur stärker ontologisch nutzbar zu machen.

Die Sendung des Menschen auf Erden ist es demnach, nicht der Menschheit zu dienen, sie zu bessern oder sie gar zu einem einzigen Volk zu einen, damit jene Harmonie auf Erden wiederkehren könne, die andere den »Gottesstaat« oder den »Staat des Menschen« nannten. Nein, unsere Sendung sei es, so Nitsch, mit dem Sein lückenlos eins zu werden.

Damit versorgt uns der Künstlerphilosoph mit einem neuen, bescheideneren Tatentraum; aber Taten sind es, um im Ganzen aufzugehen, und sie gehorchen einer beflissen privaten Logik. Shunya nennen die Tantristen den Verlust der persönlichen Identität, das »Leere«, das ozeanische Gefühl des Nicht-Seins, das ein allgemeines Ziel der Yoga-Techniken ist. Auch Nitsch will diese persönliche Identität gewinnen, und damit »Alles«, und das ozeanische Gefühl des Seins.

Im 2. Band fährt er zu diesem Zweck mit einer Reihe zusätzlicher Begriffe auf, darunter so exotische Sprachschöpfungen wie Istigkeit, Hiesigkeit, Bedenkbarkeit und Urumstand. Das ist nicht gerade das Vokabular moderner Kulturwissenschaften, eher das einer Magical-Mystery-Euphorie; arabische Konsulate werden daran ebenso wenig Freude haben wie die Vertreter der Humanitätsreligionen.

Mit dem Freiheitsbegriff könne er nichts anfangen, beteuert Nitsch. In dieser Hinsicht darf er unter der schwarzen Fahne der Anarchie wohl eine absolute Sonderstellung für sich beanspruchen, denn wenn es irgendeine Parole im Lager der Libertären gibt, zu dem so illustre Gestalten wie Michael Bakunin, Errico Maltesta und Noam Chomsky zählen, dann eben das Konzept einer zwangsfreien Gesellschaft in Freiheit.

Warum bleibt Nitsch, der sich selbst »steuerzahlender Anarchist« nennt, der Gedanke der Freiheit so vollkommen fremd? Antwort: Weil er Kontingenz nie nach ihrer positiven Seite hin denkt – dass sie nämlich vor allem die Fähigkeit impliziert, auf Distanz zu gehen, und die Fähigkeit, nein zu sagen (Ludger Lütkehaus).

Ist es heute schon vergessen, dass Hegel als einfaches Beispiel für das Wirken der Dialektik (in seiner Logik) die Gegensätzlichkeit von Sein und Nicht-Sein gewählt hat? Hegel definierte das Nichts als absolute Negation von Sein. Im Nicht-Sein wird das Sein zu seinem absolutem Anderssein gedacht – es wird gleichsam von sich selber entfremdet.

Ist nun ein Begriff denkbar, in dem der Gegensatz zwischen Sein und Nicht-Sein auf einer höheren Ebene wieder versöhnt wird? Ja. Laut Hegel ist das im Begriff Werden der Fall; im Werden sind die beiden Pole Sein und Nicht-Sein enthalten. Zugleich trägt er auch eine Entwicklung in sich. Diese Entwicklung ist der Wirklichkeit inhärent, sodass es zwischen Idee und Wirklichkeit keinen Unterschied gibt

Man muss weder Links- noch Rechtsheglianer sein, um zu erkennen, dass das dieser Gedankengang immer noch eine der intelligentesten Formeln dafür ist, die Trias von Sein, Nicht-Sein und Werden produktiv zu machen. Hegels Dialektik zeigt die Verwandlung des Bewusstseins durch sich selbst: und jedes Dasein von Bewusstsein wird in Bewegung gebracht durch das Wissen von sich; jedes Wissen und Meinen verwandelt den, der so weiß – und verwandelt muss er sein neues Wissen von sich in seiner Welt suchen. Weil Sein und Bewusstsein getrennt sind und ihre Trennung immer weiter erneuern, gerät er in immer neuer Gestalt von einem ins andere: das ist der geschichtliche Prozess.

Nitsch macht bei diesem Thema viel zu rasch Halt; seine Vorstellung von Werden blendet sofort das Vergehen mit ein (Werden = Sterben), ohne weiter zu abzuwarten, welche Türen sich durch das Wissen von sich selbst öffnen. Da Nitsch die klassische dialektische Auflösung des Seins- in Zeitbewusstem entgeht, bleibt ihm die Geschichtlichkeit des Menschen verborgen, und bleiben ihm in der Folge auch die Termini Politik und Freiheit fremd.

Das Sein transportiert keine Version einer friedlichen oder solidarischen Welt. Es fragt nicht: Was schulden wir einander? Hier feiert auf über eintausend Seiten das kosmische Adagio sein drittes Amtsjubiläum. Der Fortschritt ist dieser: das Publikum wird den neuen Anlauf nicht mehr als Blasphemie gegen Christus empfinden, sondern als Angriff auf den Positivismus der Lehre vom bürgerlichen Individuum.

© Wolfgang Koch 2010

Hermann Nitsch: Das Sein. Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. 3 Bd. im Schuber, 1186 Seiten, ISBN 978-3-222-13271-1, Styria Verlag 2009, EUR 140,-

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