vonWolfgang Koch 05.10.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Noch fünf Tage bis zu den Wiener Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen 2010. In der politischen Sandkiste geht es sich ein Befreiungsschlag aus.

Die SPÖ sagt: »Indem wir eine andere Stadt bauen, wird die Gesellschaft umgebaut«. So lautet der Grundgestus einer auf Anpassung und Profit zielenden Politik. Standortfaktoren verdrängen die Werte sich selbst behauptender Grätzel, die hohe Regelungsdichte tritt an die Stelle breiter Flanier- und Verweilzonen, josephinische Sozialtechnik ersetzt Lebenskunst und Experimentierfreude, subventionierte Leitökonomien zerstören die fröhliche Anarchie von Wurstelstand und Kebabbude.

Man verstehe mich nicht falsch. Ich will keinen neuen Verlustdiskurs eröffnen. Mir ist nichts an einem musealen Gedächtnisort gelegen. Aber das Planungsamt lässt zur selben Zeit drei Bahnhöfe und die dort gewachsenen Lebensräume dem Erdboden gleichmachen, um profitable Megaeinkaufszentren mit angeschlossenen Bahnsteigen zu errichten. Diese Shopping-Malls werden durch liberale Nachtöffnungszeiten dem Wiener Einzelhandel das Lebenslicht ausblasen.

Ginge es mit rechten Dingen zu, wäre Wiens Stadtentwicklungsplan heute ein Offizialdelikt. In sämtlichen Bezirken werden so viele Baulücken wie nur möglich geschlossen, statt endlich die Bauhöhen anzuheben und die Stadt großräumig zu begrünen. Die mit Siedlungsprojekten bedachten Architekten wälzen sich wonnevoll im Sumpf der eigenen Erbärmlichkeit.

Wird am ehemaligen Nordbahnhof oder wenigstens auf dem Nordwestbahnhofsgelände ein Wiener Central Park nach dem Vorbild von NYC errichtet? Nein, diese Brachzonen sind jetzt »imagefördernde Entwicklungsgebiete« für das zukünftige »interkulturelle Wohnen« von 37.000 Menschen. So viele Bewohner würden in nur sieben Hochbauten vom Ausmaß der derzeit weltgrößten Wohnhäuser in den Weltmetropolen São Paulo (Copan) und Chicago (Spire) passen.

Luegerkopien in Serie

Wien denken heißt heute, auf der unterirdischen Seite von Metropolis stehen. Gewiss gehört das große sozialdemokratische Herz zu den unverwechselbaren Eigenarten des ortsüblichen Charakters. Aber dieses Herz braucht dringend eine Erholungspause vom Betakeln und Ohstiern, sonst kollabiert es demnächst im Aufsichtsrat der Kommunalkredit oder im Flughafenvorstand.

Und das ist es, was mich gegen das regierende Stadtoberhaupt aufbringt: dass die Sozialdemokratie seit Urgroßvaters Zeiten das Modell eines christlichsozialen Populisten kopiert; dass die Dauerregierungspartei stets nur Kandidaten nach dem Muster des Antisemiten Dr. Karl Lueger erschafft – also penetrant leutselig, scheinbar im Volk verwurzelt, ein Feschak der alten Schule, ein markiger Redner, ein genießerischer Donaubacchant, absolut unerschütterlich den Frauen, dem Wein und dem Schnitzel verpflichtet.

 Dr. Michael Häupl fordert Dankbarkeit für sein Wirken ein. Dankbarkeit aber ist keine politische Kategorie, wir belohnen an der Urne niemanden für seine dem Gemeinwohl erbrachte Tätigkeit; MandatarInnen und Amtsträger bekommen reichlich für ihre Arbeit bezahlt.

© Wolfgang Koch 2010

 

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