vonWolfgang Koch 14.08.2011

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

Das zweitwichtigste Instrument der Publizistik, nach dem Bericht, ist der Kommentar, genauer: die Ferndiagnose, denn über Anders Behring Breivik ist trotz seiner voluminösen Bekennerschrift ja noch sehr wenig (vor allem über Ausbildung, Berufstätigkeit und finanzielle Verhältnisse) in der Öffentlichkeit bekannt.

Die Ferndiagnose verrät in der Regel oft mehr über den Autor als über den Täter und das Ereignis: also über des Schreibers Vorlieben, seine Feindbilder, sein psychologisches Gespür, sein historisches Wissen, über Originalitätsdrang, Angriffs- und Formulierlust.

Im Folgenden zwei anspruchsvollere Beispiele aus dem Universum des gedruckten Wortes. Der Computerpionier David Gelernter war einer der Adressaten des US-Terroristen Theodor Kaczinsky und wurde 1993 von einer Briefbombe schwer verletzt. Seine Analyse des norwegischen Doppelverbrechens erschien eine Woche nach den Taten in der F.A.Z. vom 29. Juli 2011.

Der zweite Autor fühlte sich von Gelernter direkt angesprochen und antwortete eine weitere Woche später auf dessen Text. Reinhard Jellen, langjähriger Telopolis-Kolumunist und DJ, veröffentlichte seine Ferndiagnose in der Wochenendbeilage der Tageszeitung »junge Welt« am 6. August 2011.

Persönlichkeitsprofil nach Gelernter
Voll zurechnungsfähig, aber feige und böse.
Wäre gerne Sektenführer oder Menschheitsretter geworden.
Hätte der Welt gerne eine heilige Schrift gegeben.
Versagte beim Wunsch, einen Persönlichkeitskult um sich zu schaffen.
Handelte ganz auf sich allein gestellt.

Persönlichkeitsprofi nach Jellen
Diplomatensohn ohne existentielle Ängste.
Zählte sich selbst zur wahren gesellschaftlichen Elite.
Ein mit diversen Unternehmungen gescheiterter Schnösel.
Im höchsten Maß geckenhaft.

Tatmotive nach Gelernter
Norwegen vor einer Unterwerfung unter den Islam bewahren.
Dass die ganze Welt über ihn diskutiert.

Tatmotiv nach Jellen
Weder Rache noch Neid.
Sondern Eitelkeit, Profilierungssucht.

Vergleiche von Gelernter
Spanischen Loyalisten der 1930er-Jahre, die ihr Land vor einer Unterwerfung unter den Katholizismus bewahren wollten.
Der Unabomber Theodor Kacinsky.
Die Dschihadisten.

Vergleich von Jellen
Die Romanfigur des narzißtisch gestörten neodarwinistischen Wall-Street-Bankers Patrick Bateman aus American Psycho von Bret ­Easton Ellis, der seine Morde als Kunstwerke inszeniert und sich damit zu selbstverwirklichen sucht.

Beurteilung durch Gelernter
Feiger Massenmörder.   
Ist mit seinem Verbrechen höchst erfolgreich.  
Seine politischen Überzeugungen sind irrelevant.
Wir haben es mit dem absolut Bösen zu tun.

Beurteilung durch Jellen
Ein in Aufmerksamkeitsökonomie geschulter Liberaler. 
Nur noch imstande, die Welt ästhetisch wahrzunehmen.
Eine Art Ökohof-Hannibal-Lecter.
Ein wohlhabender Idiot, der einfach nur den größtmöglichen, publicityträchtigsten Schaden anrichten wollte.
Praktizierender Ulfposchardtianer.
Ein Stück gutbürgerlich-liberal-konservativ gelebter Popkultur.
Pop-Art mal ganz anders.

***

Bei beiden den Autoren dient die Tatsachenfolie dazu, die in der eigenen Meinung hervorgehobenen Werte zu stützen, ihnen Gewicht und Würde zu verleihen. Was davon aus der richtigen Betrachtungsweise der Ereignisse gewonnen ist, und was illusionär, das lässt sich nur dogmatisch entscheiden, indem wir eine Wahrheitsbehauptung voraussetzen.

Publizistische Ferndiagnosen sagen nicht nur, was sie bewusst sagen wollen, sondern auch das, was sie heimlich sagen wollen, d. h. was heute öffentlich sagbar ist. Sie zielen darauf, eine »kochende Volksseele« am geeigneten Ort herzustellen. In unseren Fällen mit den Behauptungen, dass Breivik nichts als ein machtdämonischer Schuft sei und der niedrigste Weltgeist in ihm gehandelt hat.

© Wolfgang Koch 2011

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2011/08/14/breivik-kommentare_die_analytische_unschaerfe_der_ferndiagnosen_17_/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert