vonWolfgang Koch 15.01.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die jährlich weltweit durchgeführte Vergleichsstudie von Mercer zur Bewertung der Lebensqualität stellte Wien auch 2011 Bestnoten aus. Keine Wunder! Die Repression gegen Sandler (der wienerische Ausdruck für Clochards) schreckt inzwischen auch vor amtlichen Strafe für »unbegründetes Stehenbleiben« nicht mehr zurück.

 

Da muss ja die Lebensqualität der Führungskräfte einfach zunehmen. »Dreimal hintereinander Weltmeister in der Lebensqualität zu werden kommt nicht von ungefähr«, tönt Wiens sozialdemokratischer Bürgermeister heute via Die Presse in die Welt hinaus.

 

Der Wiener Exekutive, schreibt Robert Sommer, seien »alle Arten unamtlicher menschelnder Aufläufe notorisch supekt«. Den Straßenmusikanten in den Fußgängerzonen wird von lebensfremden ÖVP-Bezirksvorstehern die Distanz zu christlichen Gotteshäusern vorgeschrieben, darüber hinaus im Rathaus das Repertoire der dargebotenenen Musik und die Art der Instrumente.

 

Nach jüngsten Meinungsumfragen wird von der Bevölkerung der Rechtsaußenpartei FPÖ die meiste Lösungskompetenz in der Politik zugetraut. Wen also kann es da noch wundern, wenn das verlogene Goldene Wienerherz den städtischen Raum nicht mit Obdachlosen, Punks und Drogensüchtigen teilen will?

 

Nein, man hat sich in der Blaulichtstadt an der Donau über nichts mehr zu wundern. Die Abgründe sind bodenlos. Die Gerichte privilegieren das gemeingefährliche alkoholisierte Autofahren gegenüber dem sich selbst schädigenden Straßensäufer. Auch das ist nur konsequent unter Zeitgenossen, die Vorschriften und Verbote für den richtigen Kurs gegen ihre Mitbürger halten!

 

In halböffentlichen Räumen, sprich Einkaufszentren, Passagen, Bahnhöfen, Airports und Sportstadien regieren heute nicht mehr der gegenseitige Respekt oder der Rechtsstaat, sondern private Sicherheitssdienste, die nicht der Allgemeinheit verpflichtet sind. Robert Sommer empfindet es als geradezu »obszön«, wenn diese Tugendwächter der kommerziellen Moral vom Arbeitsmarkservive (AMS) bereitgestellt werden, also Langzeitarbeitslose auf Obdachlose gehetzt werden.

 

Die Armen prügeln die Armen, so schaut es heute in der Stadt mit der »höchsten Lebensqualität« aus – und sei es nur aus dem Schlaf. Sommer beschreibt in seinem neuen Buch die Vernichtung der sogenannten Waggonie durch die berüchtigte »Bahnhofsoffensive« der ÖBB. Darunter verstand man das Gewohnheitsrecht von zirka 150 Obdachlosen in abgestellten Waggons zu nächtigen. Dern Autor mit dem direkten Draht zur Szene kritisiert mit klaren Worten das Sterilmachen der Bahnhöfe und die Umwandlung dieser öffentlichen Orte in »Shopping-Cities mit Gleisanschluß«.

 

Man kann es natürlich auch freundlich sagen (aber wozu? Damit Michael Häupl aus dem Tiefschlaf erwacht?): Überall in Wien werden bisher für die Allgemeinheit nützlicher Räume privatisiert. Man denke an das Luxusrestaurant Steiereck im Stadtpark, man denke an die hübsche Aussichtsterrasse auf dem Kahlenberg, an das Strandcafé Hermann am Donaukanal, und und und.

 

Jede Privatisierung von öffentlichem Raum zieht eine regelrechte Überwachungsflut nach sich. Robert Sommer hat ein sehr gutes Auge dafür: ihn erinnern die ungezählten Kameras in der City nicht zufällig an die Pechrinnen mittelalterlicher Ritterburgen.

 

Der Platzverweis der Randständigen ist stets das Vorspiel des Wegsperrens. Kein anderes Feld der Gesellschaft sei so erfolgreich in der Produktion der Außenseiter, sagt Sommer, wie der Strafvollzug. Am schnellsten freilich geht das in der Psychiatrie. Am Steinhof und in den anderen Anstalten kontrollieren Mediziner und Psychologen abweichendes Verhalten, nachdem sie es zuvor erzeugt haben.

 

Robert Sommer dokumentiert weiters »strafvollzugsähnliche Einschnitte in Persönlichkeitsrechte« an Orten, die der Durchschnittswiener für unendlich weit entfernte Planeten hält: in geriatrischen Anstalten, Seniorinnenheimen und Obdachlosenasylen. Für diese »Every-Day-Repression« in den Anstalten übernimmt der Sozialkritiker den Begriff der »totalen Institution« von Erwing Goffmann.

 

»Totale Institution« – Welche Einrichtung in Wien käme für diesen dramatischen Schandtitel mehr in Frage als die Mega-Pflegeheim-Agglomeration in Lainz – von der Stadtverwaltung heute beschönigend »Geriatriezentrum im Wienerwald« genannt? Das Leben der Alten, schreibt Sommer, stehe dort unter einem permanenten Zwang; niemand gehe in Österreich freiwillig in ein Pflegeheim.

 

Wir erfahren von alten Menschen, Greisen, Mitbürgern, die in den Seniorenheimen zwangsgeschoren werden; wir hören von Menschen, Mitbürgern, denen man in den Altenheimen ihre Privatkleidung verweigert; und von solchen, denen ihr unerwünschtes Verhalten sanft oder mit Hilfe von Medikamenten ausgetrieben wird.

 

»Schwarzmalerei«, sagen Sie, »ein linkes Zerrbild der Realität! Solche Zustände kann es doch unter einer rot-grünen Koalition gar nicht geben«. – Nun, dann lassen Sie sich vom Inhalt dieses Buches mal überraschen.

 

»Unbeholfen, gebrechlich, dement, schrullig zu werden im Prozess des Alterns ist kein Verbrechen«, schreibt Sommer. Man möchte diese Worte Buchstabe für Buchstabe in Stein meiseln und zur ewigen Ermahnung des Pflegepersonals über die Tore der Wiener Altenheime hängen.

 

»Altern ist kein Verbrechen …« – so eine Steintafel wäre doch einmal ein sozial eingesetzter Subventions-Euro, Herr Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny, oder?

 

© Wolfgang Koch 2012

 

Robert Sommer: Wie bleibt der Rand am Rand. Reportagen vom Alltag der Repression und Exklusion. 178 Seiten. Wien 2011: Mandelbaum Verlag, 9.90 EUR

 

http://www.mandelbaum.de/

http://kritikundutopie.net/

http://www.augustin.or.at/

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