vonWolfgang Koch 22.01.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

Robert Sommers Streitschrift gegen den Ausschluss Armen aus der profanen Lebenswelt Wiens ist parteiisch, aber keineswegs einseitig. Er beharrt auf die Unteilbarkeit der Stadt, verherrlichst die Randständigen dabei aber kein bisschen.

 

Sommer vermag sich sogar in das »Ekelgefühl eines faschistoiden Passantengemüts gegenüber einer verwahrlosten Erscheinung«, wie sie Bettler und Obdachlose abgeben, hineinzudenken. Aber anders als die Mehrheit der Bürgervertreter Wiens knickt er vor diesem ablehnenden Impuls nicht gleich innerlich ein. Sommer schaltet den Verstand an und weist ihm den Weg zu Solidarität und Mitgefühl.

 

Hat nicht jede Stadt ihre eigenen Vorteile? Gewiss. Sommer nennt vier Varianten der Wienerischen Ost-Phobie:den Antislawismus, den Antisemitismus, den Antiislamismus und den Hass auf Zigeuner. Nur letzterem – dem Antiziganismus – schenkt er in Wie der Rand am Rand bleibt nähere Beachtung.

 

Diese Selbstbeschränkung beim »Ausländerthema« hat etwas durchaus befreiendes. Sämtliche Diskuse der Stadtpolitik sind ja seit Jahren hoffnungslos gefangen in den Integrationsproblemen türkischer und andere Zuwanderer. Für die Produktion des gesellschaftlichen Randes, wie ihn Sommer eindringlich beschreibt, ist es unerheblich, wie, wann und warum Migranten aus der Türkei Deutsch lernen. Das sind die Probleme der FPÖ und der Pädagogen an den staatlichen Schulen.

 

Aber auch die beiden Regierungsparteien setzen das Deutschlernen so penetrant auf die Agenda, als wäre die Massenmigration der fleißigen Hilfsarbeiter irgendwie gottgewollt. Das stellt die bettelnden Nicht-Existenzen auf der Gehsteigkante automatisch in ein fortschrittsfeindliches Licht.

 

In Wien regiert jetzt seit mehr als einem Jahr Rot-Grün, und so fragen wir: Hat diese medial vielbejubelte Koalition der liberalen akademischen Elite mit der mafiösen Arbeiteraristokratie auch nur ein einziges Mal die Rücknahme des Betteleiverbotes diskutiert? Nein, hat sie nicht, Sozialdemokraten und Grüne lassen sich von der FPÖ beliebig vor sich hertreiben.

 

Für die Massenmigranten aus den armen Ländern ist das Erlernen der österreichischen Verkehrssprache zweitrangig. Maßgeblicher ist, wie viele Moscheen in der Stadt existieren. Denn in den Bethäusern und Moscheen werden von Moslems ja nicht nur religiöse Rituale verrichtet, hier können sich die nachrückenden Billiglohnkräfte aus der islamischen Welt auch kostenlos duschen und preiswert verköstigen.

 

Für Robert Sommer ist die Migration aus dem Süden und dem Osten Europas übrigens ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit. Der Autor erinnert daran, dass österreichische Banken in den letzten Jahrzehnten hochprofitabel im Ausland investiert haben. Jetzt holen sich eben die bettelnden Zuwanderer einen Bruchteil vom Lebensstandard-Zugewinn der Österreicher wieder zurück.

 

Gerade das aber regt das Goldene Wienerherz ja bis zum Platzen auf: dass in der City, in den Einkaufsstraßen, den Fußgängerzonen sauarme Zigeuner aus der Slowakei theatralisch bettelnd vor seine Sozialfassade hintreten. Es erscheint dem Wiener ganz unpraktisch, dass die Armen einen unmittelbaren Beweis gegen seine Hohlheit in der Hand haben.

 

Ich meine, dass Robert Sommer auch dort Recht hat, wo er nicht Recht hat, wo man nicht mit seinen Ansichten übereinstimmen kann, etwa wenn er die Existenz von Gefängnissen skandalisiert.

 

Sommer hat auch dabei Recht, weil er den Finger in die Wunde unserer empirischen Erscheinung steckt und eine bohrende Frage stellt. Diese Frage lautet: »Warum können oder wollen wir uns eine repressionsfreie Gesellschaft ohne Gefängnisse nicht einmal mehr vorstellen?«

 

Ich bin nicht in der Lage, diese Frage konstruktiv zu beantworten. Aber muss ich sie deshalb in meinem Kopf als unfruchtbar beiseite schieben? Keineswegs. Ich nehme sie als Ansporn, mein Denken in Schwung zu bringen: Wovor habe ich denn eigentlich Angst, wenn ich an die Ost-Mafia denke? Wem gegenüber fühle ich mich in meinem erfüllten Diesseits ohnmächtig? Sind das nicht eher die Machteliten als die Autodiebe?

 

Robert Sommer bezeichnet die finanziellen Rettungspakete für Banken, das politische Hauptthema der letzten Jahre, als »eine öffentliche Subvention von potentiellen Wirtschaftskriminellen«. An anderer Stelle beschreibt er die Gentrifizierung der Alten Donau als Zusammenspiel des Immobilienhais Glorit, ein Unternehmer der niederöstereichischen Familie Glockenstein, mit den Augustiner Chorherrn von Klosterneuburg.

 

Mit solchen Themen kehren wir notgedrungen zur Politik zurück, zu unseren Parteien, die uns zwar fürsorglich vor dem Absturz beim Kleinen Glückspiel bewahren, aber zugleich im Großen Glückspiel des Lebens als Verlust verbuchen.

 

Man kann nicht behaupten, dass dieses materialreiche Buch keine Mängel hatte, die hat es. Doch diese Mängel sind formaler Natur, Stil, Textlängen, Editionsarbeit betreffend; an den Inhalten habe ich nicht das Geringste auszusetzen.

 

Ein paar Beispiele für die Schwächen: Sommer spricht von »Achtsamkeit«, wo er Rücksichtnahme meint. Er setzt voraus, dass jedermann weiß, wer Helmut Seethaler ist. Immer wieder reißt im Textfluß ein plumper Zeitungsstil ein (»in letzter Zeit«, »unlängst«).

 

Da hätte ein Lektorat viel retten können. Warum z. B. sollen bestimmte Studien »Aufmerksamkeitseinheiten« verdienen, und nicht einfach »Aufmerksamkeit« – was kürzer ist und präziser?

Sommer fordert mehr Ironie in der veröffentlichten Meinung, um die grassierende Xenophobie zu bekämpfen. Gut, nur leider greift er dann selbst nicht in den Werkzeugkasten, um die Vorurteile der Wiener gegen die »Überfremdung« zu verarschen, sondern zitiert ausführlich eine Satire aus dem Guardian, die den Briten die Leviten liest.

 

Ich wünsche diesem Buch, trotz seiner editorischen Mängel, möglichst viele Leser: vor allem unter den politischen Aktiven der Sozialdemokratie, der Grünen und der sich gerade zum Entern der Parlamente sammelnden Piraten.

 

Hätte der Autor ein halbes Jahr länger am Text gearbeitet, so hätte er vielleicht das erste brauchbare politische Manifest im neuen Jahrhundert abgeliefert. Hätte Sommer ein halbes Jahr länger an seinem ehrlichen Aufschrei gegen die Kälte dieser Stadt geschliffen, wäre der fröhlichen Gratisbuchinitiative »Eine Stadt. Ein Buch« 2012 wohl keine andere Wahl geblieben, als nach zehn Jahren des disparaten Bücherverschenkens auf Steuerzahlerkosten endlich einmal ein gewichtiges Werk unter die Leute zu bringen.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

 

Robert Sommer: Wie bleibt der Rand am Rand. Reportagen vom Alltag der Repression und Exklusion. 178 Seiten. Wien 2011: Mandelbaum Verlag, 9.90 EUR

 

http://www.mandelbaum.de/

http://kritikundutopie.net/

http://www.augustin.or.at/

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2012/01/22/ein-aufschrei-gegen-die-neoliberale-stadt-3/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert