vonWolfgang Koch 09.02.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die Aufgabe ist brutal groß: in dieser behäbigen Stadt des Weltkulturerbes und der Kebabstände, der Ballfröhlichkeit und der Notschlafstellen, der Holocaustleugner und der Szenefriseure Institutionen und zugleich die Ideologie, auf die sie sich gründen, radikal umzustülpen.

 

Die Pensionisten wollen die SPÖ haben, wie sie ist: ohne die Gewalt der Vernunft, die die Arbeiterinnenbewegung in den Kämpfen der 1920er-Jahre für sich reklamieren konnte. Die Masse der heutigen Alten und der Zuwanderer wollen die SPÖ, wie sie ist, um ihren Anteil am Wohlstand zu sichern, um Großgeräte in Spitälern anzuschaffen, die Pflichtschule abzuschließen, den TV-Müll störungsfrei im Möbelhaussofa konsumieren zu können.

 

Es sind diese Verfinsterungen des Politischen durch die Schwerkraft der Verhältnisse, die einen Intellektuellen des Unterproletariats wie Robert Sommer nach dem Einverständnis mit der Revolte rufen lassen. Die SPÖ wird heute regiert von Gestalten, die keinen Zweifel kennen über die Art, wie man Mensch ist, wie man ein menschliches Gesicht trägt, und nicht nur Grimassen schneidet vor laufenden Kameras.

 

Die Wiener SPÖ wird heute geführt von mediokren Politikzubereitern, deren Kompetenz sich auf das Entfachen antifaschistischer Hysterien und den Verzehr von Krabbenbrötchen beschränkt. – Und trotzdem traue ich dieser Partei, die ihre Mitglieder gerade für 35 Euro mit SalsaDisco und Tombola zum 65. Roten Nelken Ball lockt, immer noch alles Richtige zu.

 

Die Sozialdemokratie ist die Bewegung, und es gibt keine andere, in deren Gedächtnis die Erfahrungen des proletarischen Ausgeschlossenseins gespeichert sind. Nur die SPÖ besitzt das jünglingshafte Kostüm des Roten Wiens, das die jahrhundertelange Verdunkelung der Unfreiheit durch Habsburg in unseren Breiten von sich geschüttelt hat.

 

Robert Sommer verteidigt die Ausssteiger, die Bettler, die Konsumverweigerer. Er unterstützt Legalize-Initiativen und propagiert die brave Idee von Cannabis Social Clubs. Doch gesündere Drogen verändern keine jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die zum steten Rauschbedürfnis und zur Produktion des »gesellschaftlichen Abschaums« geführt haben.

 

Sie, die Große Sozialdemokratie, ist immer noch die einzige politische Kraft, die soziale Hoffnungen ausstrahlt. Sie hat immer noch das Potential, die Psychiatrien Wiens aufzulösen, die Interniertenpopulation zu verkleinern. Die SPÖ hätte die Macht, dem Immobilienhai Glorit an der Alten Donau entgegenzutreten und dort ein weiteres »Top-Wohngebiet« für die Reichen zu verhindern.

 

Die SPÖ allein hätte die Kraft, das Krankenhaus von einem Ort des Ausschlusses wieder in eine Einrichtung zur Heilung zu verwandeln. Sie hätte die Kompetenz, die Einhaltung der Menschenrechtsstandards in der Arbeit der Exekutive zu überwachen. Sie wäre die einzige Agentur, die Angehörige der Unterklassen mit Verhaltenauffälligkeiten vor dem berüchtigten Goldenen Wienerherz in Schutz nehmen könnte.

 

Ja sie, die Wiener SPÖ, besitzt theoretisch sogar die moralische Kraft und Würde, sich bei Werner Vogt  für den skandalösen Hinauswurf aus seiner Funktion als weisungsfreier Pflegeombudsmann der heimischen Spitäler 2006 zu entschuldigen.

 

Die Frage ist allerdings, wie das Verantwortungsbewusstsein für Mitte und Rand der Gesellschaft in den Köpfen der sozialdemokratischen Politikerinnen wieder geweckt wird? Wie diese Partei die peinliche Vulgarität eine neureichen Milieus, das ihre Spitzen umgibt, wieder abschütteln kann?

 

Die Frage ist, wie die Wiener SPÖ die Klientelpolitiker der Bauwirtschaft los wird? Wann beginnt sie das ausgetüftelte System ihrer eigenen Privilegien zu demontieren?

 

Eine der Antwort auf diese Fragen heisst: Pensionierung des sagenhaft ignoranten Bürgermeisters Michael Häupl. Muss denn der Mann erst nach dem unvermeidlichen Verlust der absoluten Mehrheit für Rot-Grün 2016 in den Ruhestand treten?

 

Und wer folgt ihm nach, der sich nicht nur durch Worte, sondern auch durch seinen Lebenstil, und vor allem: durch Taten auf der Seite der Entrechteten und Armen stellt? Gibt es im roten Rathaus überhaupt noch jemanden, dem zum Beispiel zum Thema Kupferdiebstahl auf Bahntrassen mehr einfällt als Stacheldraht, höhere Mauern, Sicherheitstüren? Gibt es nach 85jähriger Regierungsverantwortung dieser Partei überhaupt noch Personen in ihren Reihen, die für eine Wertordnung stehen könnten, in der Aufrichtigkeit und Würde zentrale Begriffe sind?

 

Heute heißt es überall: Verfolgung, Stabtaschenlampen – nicht nur in Abrisshäusern. Ohne das Armutsproblem lösen zu können, ohne den Mechanismus der Exklusion zerschlagen zu können, lernen wir, damit zu leben. Um die soziale Tragödie des heutigen Stadtlebens zu erkennen, braucht es keine Echatologien, keinen »Tag X des Lachens und der Entsagung«, keine brennenden Autos, keine Gewalt auf der Straße.

 

Um die Verhältnisse zu ändern, muss nicht der Hass in der Welt vermehrt werden. Die lange Existenz der Obdachlosenzeitung Augustin beweist doch, dass ein richtiges Leben im Falschen möglich ist.

 

In England diskutieren kluge Köpfe gerade die radikale Kürzung der Wochenarbeitszeit (21 Hours) als eine Alternative zur real existierenden Misere. In solchen Debatten wird die Zukunft Europas verhandelt: in den politischen Workshops der Linksparteien, bei demokratischen Wahlen mit mutigen Bautrupps, die auf den Firlefanz der Gesinnungszeichen verzichten und lieber beherzt anpacken.

 

Ich fordere angewandte Sozialkunde in den Institutionen! Denn in den Gremien der politischen Parteien fallen die Entscheidungen – nicht bei den alpinen Kuhbauern, nicht bei den griechischen Fischern, nicht im Duft wundertätiger Treibhausgräser oder bei der »Volkserhebung« mit den untergehakten Subalternen in der ersten Reihe.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

Robert Sommer: Wie bleibt der Rand am Rand. Reportagen vom Alltag der Repression und Exklusion. 178 Seiten. Wien 2011: Mandelbaum Verlag, 9.90 EUR

 

http://www.mandelbaum.de/

http://kritikundutopie.net/

http://www.augustin.or.at/

 

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