vonWolfgang Koch 08.05.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Vers 35 des Khaggavisāna-Sutta aus der Lehrdichtung Sutta-Nipāta (I.3):

 

»Abstehend von Gewalt bei allen Lebewesen,

Nicht eins von ihnen irgendwie verletzend,

Nicht Sohn sich wünschend, noch Gefährten,

Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich«.

 

 

OOOOOOuuUUUUuuOOOOOO

 

Kennen Sie diese Weltformel?, fragte meine Lehrerin.

 

ICH (seitwärts sitzend, überrascht): Weltformel? Sie meinen, das sei so eine Art Theory of Everything, mit der sich alle Probleme lösen lassen?

 

In Milde, heiter, antwortete sie:

 

»Weltformel ist nur ein anderes Wort für Baustelle, eine Baustelle des Denkens. Der Vers zeigt uns die existenzielle Situation des Unterwegs-Seins auf dem Pfad des Dhamma. Wir sollen uns aufmachen wie ein Nashorn, das von der Steppe in den Wald wandert«.

 

ICH: … einsam wandern, ohne Mitmeditierende?

 

LEHRERIN: Ohne Gefährten und am Ende auch ohne Lehrer. Jede Reise hat ja die Struktur einer Rückkehr aus einer größten Ferne – nach Hause, zum Wesentlichen, zu sich selbst, usw. Die Erde zeigt sich dabei von ihrer besten Seite. Landschaften, Städte, Gesichter wirken auf uns als lebendige Gegenüber, sie setzen Zeichen, die wir zu unserer eigenen Überraschung verstehen lernen. Unterwegs gibt es keine Zufälle mehr.

 

ICH: Auch Christen fassen ihr Leben als Pilgerreise auf und wollen am Ende von einem versöhnenden Christus am Richterthron in die Arme genommen werden.

 

LEHRERIN: Sehen Sie, wahrscheinlich muss sich jedes mit der Moderne kompatible Denken der Reise-Metapher bedienen.

 

ICH: Wie reist denn ein Nashorn?

 

LEHRERIN: Sein Ziel ist ein neuer Ort schlechthin. Seine Wanderung erfragt weniger das bestimmte Sein einer Landschaft. Der Akzent liegt, wie Siegfried Kracauer einmal gesagt hat, auf der Abgelöstheit, die die Reise gewährt.

 

ICH: Verstehe ich nicht. Das Nashorn wandert doch sicher, um geeignete Wasser- und auch Suhlstellen zu finden. Das ist ein ganz bestimmter Ort; kein neuer Ort schlechthin.

 

LEHRERIN: Denken Sie bitte an sich. Wenn Sie reisen, dann um vorübergehend woanders zu sein, als dort, wo sie gewöhnlich sind.

 

Wir schwiegen eine Weile.

 

LEHRERIN: Was den Wert des Reisens ausmacht, ist die Angst. Irgendwo unterwegs überfällt uns eine unbestimmte Angst; wir empfinden unwillkürlich das Verlangen, in den Schutz unserer alten Gewohnheiten zurückzukehren. Das ist, wie Albert Camus in seinen Tagebüchern geschrieben hat, das augenfälligste Ergebnis des Reisens.

 

ICH: Die Unsicherheit?

 

LEHRERIN: Die Erschütterung. In diesem Moment fiebern wir und sind zugleich durchlässig. »Wir stehen vor der Ewigkeit«, sagt Camus.

 

ICH: Reise man denn nicht zum Vergnügen?

 

LEHRERIN: Nein, das gibt es nicht. Sie sollten eher eine Askese darin sehen. Das Vergnügen lenkt Sie nur von sich selbst ab, entfernt sie vom Pfad.

 

ICH: Sie wollen eine höhere Wissenschaft aus dem Unterwegssein machen!

 

LEHRERIN: Sagen wir, Lebensernst. Tiefsten Lebensernst.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

 

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