vonWolfgang Koch 12.06.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Walter Seitter ist ein Wanderer, der hoch hinaufsteigt und deshalb tief hinabblicken kann. Aus seiner Schreibwerkstatt am Hohen Markt sollen im heurigen Jahr nicht weniger als vier Bücher hervorgehen.

Wilde Tumulte von Monstern, Tieren und unförmigen Menschen

In dem schmalen Thesenbändchen, von dem an dieser Stelle die Rede ist, rezykliert Seitter drei seiner seit langem bekannte Aufsätze aus den 1990er-Jahren und fügt diesen zwei spannende neue Texte hinzu, die sich mit den älteren Studien tatsächlich zu einem kulturgeschichtlichen Schwergewicht unter den Neuerscheinungen summieren.

 

Walter Seitter wölbt in klassischer Weise zwei Stilbegriffe der Kunstgeschichte gegeneinander. Den aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammender Begriff der Romanik für einen Bau- u. Kunststil des lateinischen Europa, der sich an der Antike orientierte, und im Widerstreit dazu: den Tatbestand der sogenannten Gotik, ursprünglich ein Denunziationsbegriff der Renaissance für die vorhergehende Epoche.

 

Dieses Gegeneinanderwuchten mag einem aufgrund der verschiedenen Herkunft der Begriffe problematisch erscheinen, – aber es hat doch eine lange und fruchtbare Tradition von den Wissenschaften bis hinein in die Schulbücher. Seitters Fokus liegt auf der Spätromanik des 13. Jahrhunderts, der »Spätestromanik«, wie er sie einmal nennt, die am europäischen Himmel erst einsetzte, als der neue zisterziensische Geist bereits überall in West- und Zentraleuropa Fuß gefasst hatte – am schwierigsten erwartungsgemäß in Italien.

 

Die Minoritenbrüder saßen ab 1224 in Wien, die Dominikaner rückten im Jahr darauf an, um Ketzer zu verfolgen. In Denken dieser streitbaren Christen war Gott allein das allen Gemeinsame. Was aber hieß das für die vorangegangene Epoche, in der man auch im Kirchenraum und rund um die Kirche herum das weltliche Leben noch miteinander teilte? Nichts Gutes. Der stürmische und unaufhaltsame Vormarsch der Gotik hieß, dass das Weltliche auf eine reine Repräsentation im Sakralraum zurückgedrängt wurde. Mit dem Zisterzienserorden rückte eine zunehmende Internationalität der ritterlichen Gesellschaft in Österreich ein. Und der Streit zwischen Papst und Kaiser schlug eindeutig zugunsten Roms aus.

 

Wenn nun Bauherrn trotz dieser geänderter Großlage der Politik am althergebrachten romanischen Stil festhielten, so mochte das seine ernsthaften Gründe haben. Seitter: »Die widerspenstige Romanik des dritten, vierten oder fünften Jahrzehnts des 13. Jahrhunderts wehrt sich gegen den gotischen Fortschritt zum vollkommenen, zum reinen Christentum«.

 

Um zu solchen provokanten Feststellungen zu kommen, untersuchte Seitter Bauten in Italien, Deutschland und Österreich. Dabei betrieb er auf seinen Reisen eine Art der höheren Trigonometrie, die sich mit dem Messen und Wägen allein des Sichtbaren befasst. Man könnte auch von »methodischen Selbstbeschränkung« sprechen. Jedenfalls war die Romanik für Seitter gekennzeichnet durch die harte Fügung von großen Raumkörpersegmenten wie Quader, Zylinder und Kegel. Ein Text heisst schlicht »Das Insistieren der Steine«, denn sie, die Steine, sind ja die Basis von Seitters Forschung, ihre schiere Masse erscheint als das Wesentliche des Romanischen.

 

Der Zeitraum auf den sich die Untersuchung bezieht, umfasst ein Jahrtausend, und Seitter findet alle seine »Beweise« in lokalen Monumenten perfekt ausgebildet. Er verzichtet fast vollkommen auf Daten über allgemeine Tendenzen einer Epoche, und auf jene spezifischen Ereignisse, von denen unsere Geschichtsbücher voll sind. Statt sich auf Vergleiche der Stephanskirche mit Gotteshäusern oder Rittergrabsteinen in der Provinz zu stürzen – es gibt in Österreich an die fünfzig Kirchen und Kapellen, in denen sich Wandgemälde aus romanischer Zeit erhalten haben –, formuliert Seitter seine Kulturtheorie in einer genauen Grammatik der Baukunst und der sie schmückenden Skulptur.

 

Es gibt unter den Erdgeschoßräumen im Westwerk der Stephanskirche eine »Schwarze Kammer« und eine »Teppichkammer«, es gibt vier- und achteckige Grundrissformen der Heinrichstürme. Über all das ließe sich vortrefflich spekulieren – nichts davon bei Seitter.

 

Seitters »monumentarische Archäologie«, ein Ausdruck von Michel Foucault, nimmt die Dinge genau so, wie sie heute vor uns stehen. Einzelne Beobachtungen der Form gehen in den Speicher des Beobachters ein, andere weist er zurück. Was dabei herausgekommen ist, ist die allerschönste Kunstgeographie, die wir im Augenblick haben und wie sie ein Philosoph nur formulieren kann.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik, 139 Seiten, ISBN 978 3 85449 361 7, Wien: Sonderzahl 2012, 18,- EUR

 

TEILE DER SERIE [a-f]:

St. Stephan und das höhere Verlangen des Augenblicks

Was zum Teufel ist »Reaktionäre Romanik«?

Der unvermeidliche Ausflug der Wiener nach Schöngrabern

Makro-Historie am Beispiel der Wiener Stephanskirche

Walter Seitters weltgeschichtliche Wiederaneignung des Westens

Der neuerliche Zeitsprung durch den islamischen Terrorismus

Spätestromanik, die vor Primitivismus nicht zurückschreckt / Fotos: W.Koch

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