vonWolfgang Koch 02.10.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Es ist nun auch schon wieder 13 Jahre her, dass im Skeptical Inquirer der Snuff-Film, in dem SchaupielerInnen angeblich tatsächlich getötet werden, als urbane Legende enttarnt wurde. Damals, im Mai/Juni 1999, zerpflückten die professoralen Skeptiker in ihrer Weltzentrale in Amherst sämtliche kursierenden Gerüchte über reale Leinwandmassaker.

 

Amherst liegt im US-Bundestaat New York, nicht unweit der Niagarafälle, und das Städtchen schmückt sich seither immer wieder stolz mit dem Titel, eine der sichersten Städte Amerikas zu sein. Diesen großspurigen Anspruch teilt Amherst übrigens mit Wien (für den Bereich der europäischen Kontinentalplatte), wo derzeit ein viel süßeres Gerücht die Runde macht.

Gegen alle guten Sitten verstossende Brombeerhecke / Foto: Stadtfruchtwien

Warum wohl, fragen sich die Freunde und Freundinnen essbarer Stadtfrüchte, wachsen bei uns in Wien so viele wilde Apfelbäume ausgerechnet an Bahndämmen? Hier drängt sich eine aufmerksame Beobachtung zur Legendenbildung geradezu auf.

 

Die Antwort erfahrener Obstsammler: An den wilden Äpfeln auf Wiens Bahndämmen tragen die Zugreisenden vergangener Zeiten Schuld. In den Tagen anno Schiebfenster sollen die Passagiere unbekümmert die angenagten Apfelreste (auf gut Österreichisch »Putzen«) aus dem geöffneten Zugfenster geworfen haben, und wenn dieser Abfall nicht zwei Abteile weiter durch ein geöffnetes Zugfenster wieder hineinflog, so fielen die Apfelkerne eben auf fruchtbaren Wiener Boden.

 

Keine schlechte Hypothese! Sie verbreitet sich derzeit unter den Guerilla-Gardeners der Stadt wie ein Lauffeuer. Immer häufiger müssen jetzt im Herbst Rettungsaktionen für ungenutztes Obst und Gemüse veranstaltet werden; nicht immer zur Freude der zuständigen Magistratsabteilung 42, die ihrerseits Fruchtfliegen zum Feindbild erkoren hat und am liebsten gar keine Obstbäume mehr auf öffentlichem Grund sähe.

 

Doch für den unabweislichen politischen Willen, die Stadternten organisiert einzufahren, sorgt die sich in Wien unübersehbar ausbreitende Armut. Jede Früchtesaison kümmern sich jetzt mehr Freiberufler, Prekarisierte und Überlebenswillige um die Fruchtbäume und -sträucher im öffentlichen Raum.

 

Von Jahr zu Jahr dringlicher stellen Radikalbotaniker und Großstadtgemüse-Initiativler pflückfreudige Gruppen, rückten die vergessenen Stadtfrüchte im Netz ins Licht der Wahrnehmung, und sie verarbeiten die schmackhaften Äpfel, Birnen, Kirschen, Weicheln, Kriecherln alias Mirabellen, Paradeiser und Kürbisse kollektiv zu Marmeladen und Konfitüren, Suppen und Kompotten.

 

»Wir wollen Anrainerinnen ermutigen, das Versprechen der Natur wieder ernst zu nehmen«, heißt es auf der gemeinnützigen Stadtfruchtwien-Site. »Wir meinen, dass im Sinne einer Zukunft mit ErnährungsSouveränität schon heute damit begonnen werden sollte, vermehrt Fruchtbäume&Sträucher im öffentlichen Raum zu pflanzen und sich darum zu kümmern«.

 

Hier wird angesichts der globalen Mehrfachkrise (Wachstum, Energie, Klima) der sozialistische Geist der Wiener Kleinsiedlerbewegung aus den 1920er-Jahren noch einmal lebendig. Und zu einem lebendigen Spuk gehören natürlich auch Gerüchte wie das von den fliegenden Apfelkernen unbedingt mit dazu.

 

Wie hieß es einst so schön im Inquirer: »Urban Legends dienen uns dazu, unseren krankhaften Neigungen durch den einfachen Akt der Weitergabe von gut abgehangenen Geschichten, irgendwo zwischen Klatsch und Lagerfeuer, zu frönen«.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

http://stadtfruchtwien.wordpress.com/

 

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