vonWolfgang Koch 28.05.2013

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Hermann Nitsch: Oedipus, 1990 (30 cm hoch, Gips, Mullbinde, Ölfarbe), Sammlung Hummel, Wien / Foto: M. Thurnberger

Als am 8. Dezember 1923 Bertold Brechts expressionistisches Drama Baal im Alten Theater in Leipzig seine Uraufführung erlebte, war augenblicklich die Hölle los. »Das Theater glich einem Schlachtfeld, als der Vorhang endlich, endlich fiel«, berichteten die Neuesten Nachrichten anderntags: »Zwei Heerhaufen tobten wild gegeneinander. Ich habe die Leipziger nie so völlig außer sich gesehen… Man pfiff und schrie, warf sich Beleidigungen an den Kopf, und wenig fehlte, so hätten Hitzköpfe sich ihre gegenteilige Meinung gegenseitig mit Fäusten demonstriert«.

 

Vieles von dem, was man Brechts antiillusionärem Schauspiel damals öffentlich vorwarf – dass es eine »Pubertäts-Kraftorgie« sei, dass sich darin »Sinnlichkeit ohne Maß« ausgetobt habe, dass auf der Bühne eine um Schnaps und Erotik kreisende »Knabenphantasie entfesselt« worden sei –, stimmt vollkommen mit den Vorwürfen überein, die seit nunmehr fünf Jahrzehnten auf das Orgien Mysterien Theater herabprasseln.

 

Dabei ist Hermann Nitschs Mythenarchäologie doch in jeder aktionistischen Version auf die Bewusstmachung von Sinnlichkeit ausgelegt, Rauschzustände sollen mit großer Zurückhaltung inszeniert, die Exstase als höchste Steigerung der Selbstkultivierung erlebt werden. Dem österreichischen Künstler liegt nichts an Provokation. Er wolle immer nur eine Kunst machen, betont er, die erschüttert.

 

Die Geschichte der großen Spiele des Orgien Mysterien Theaters reicht ein halbes Jahrhundert zurück. Die ersten Ideen und Entwürfe für ein mehrtägiges Aktionsspiel stammen aus dem Jahr 1957. Doch erst bei seiner 40. Aktion in New York 1972 gelang es Hermann Nitsch das Geschehen mit nackten Körpern, Farben und Gerüchen auf zwölf Stunden auszudehnen und die Dramaturgie zu einem Fest mit musikalischen Darbietungen, kulinarischen Genüssen und Spaziergängen in der freien Natur auszuweiten.

 

1974 folgte dann als 50. Aktion das Eintagespiel in Schloss Prinzendorf, dem nun eine Partitur des ersten Tages und der ersten Nacht des geplanten Sechstagespiels zugrunde lang, das also 24 Stunden lang dauerte.

 

Der nächste Schritt war das Dreitagespiel 1984 (80. Aktion). Doch erst weitere 14 Jahre später, 1998, konnte Nitsch sein bisher einziges vollständiges Sechstagespiel realisieren. Es wird im Werkverzeichnis als 100. Aktion geführt.

 

2004 folgte als 120. Aktion ein Zweitagespiel in Schloss Prinzendorf. 2005 die 122. Aktion im Wiener Burgtheater, die nur einen kühlen Abend lang dauerte. Auch die spektakukuläre 135. Aktion im Juni 2012 unter tropischen Palmen auf der Biennale Havanna zählt nur als umfangreiche Lehraktion. Im Grund genommen ist das Dreitagespiel in Leipzig also erst die vierte mehrtägige Realsierung des Orgienmysteriums, und nach dem Beginn im New Yorker Mercer Art Center 1972 das zweite Spiel außerhalb der Mauern von Schloss Prinzendorf überhaupt.

 

Wenn Nitsch nun Ende Juni den Weißwurstäquator gen Norden überschreitet, kommt er nicht alleine. Als Dirigent wirkt der in London lebende Italiener Andrea Cusumano in der Leipziger Festspielarena. Aktive und passive Akteure des Dreitagespiels werden noch bis zum 18. Juni gecastet und proben dann vier volle Tage unentgeltlich bis zur Aufführung.

 

Muss eine Zeit, in der religiöse Eiferer ihr menschliches Hassobjekt mit dem Fleischermesser abschlachten und dann mit bluttriefenden Händen vor die Kamera treten, wie dieser Tage  zum allgemeinen Entsetzen in London geschehen, nicht einen besonderen Ekel vor Fleisch und Blut hervorrufen? Muss denn wirklich noch künstlerisch an einer Ästhetik des Hässlichen gearbeitet werden, wenn sich Grausamkeit dreist und obszön auf der Straße in Szene setzt?

 

Die Antwort ist: ja. Man wird in der Gegenwart keinen Künstler finden, der ernsthafter als Nitsch an einer Theorie der vermischten Empfindungen arbeitet, an intensiven Gesamtkunstwerken, in deren Poesie sich die Hässlichkeit der Form gänzlich verliert.

 

Für Nitsch ist es das Außerordentliche des dioysischen Festes, das dem Leben Sinn und Bedeutung verleiht. Er formuliert damit eine geradezu athletische Haltung der Kultur und des friedlichen Zusammenlebens, die sich mutig mörderischen Possenreißern wie Anders Behring Breivik (2011), Michael Adebolajo und Michael Oluwatobi Adebowale (2013) entgegenstellt.

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.nitsch.org/index-de.html

http://www.centraltheater-leipzig.de/

 

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