vonWolfgang Koch 23.10.2014

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Es muss schon einiges passiert sein, wenn in der Theaterstadt Wien nicht mehr die Produktionen von Burgtheater und Oper das Gesprächsthema in den Familien und am Kaffeehaustisch bilden, sondern die deutsche Adaption eines Broadway Musicals aus den Erfolgsstudios von Disney.

Tatsächlich ist in Wien 2014 etwas geschehen: Die Hauptbühnen der Stadt sind komplett mit sich selbst beschäftigt. Das Burgtheater mit einem, jahrelang vom sozialdemokratisch geführten Kulturministerium vertuschten Finanzskandal in der eigenen Verwaltung; die Wiener Oper mit dem erzürnten Abgang ihres künstlerischen Leiters, der in einem nahezu wortlosen Knalleffekt die Leitung des Hauses am Ring angegriffen hat.

Den Produktionen beider Institutionen nützt mitten in den Skandalen auch die massive mediale Unterstützung des ORF nichts mehr, der zur Hofberichterstattung des Wiener Kulturlebens bekanntlich den eigenen Spartenkanal ORF III betreibt. Man spricht in Wien nicht mehr über das künstlerische Angebot der Megahäuser, man spricht bis in nächtliche Sitzungen des Parlaments hinein über mysteriöse Prämienzahlungen und Rollenbesetzungen.

Das breite Publikum aber wendet sich angewidert ab von den Skandalen und der leichten Muse des Musicals zu. Im Ronacher präsentieren die Vereinigte Bühnen Wien eine wirklich spektakuläre Version der Mary Poppins von Cameron Mackintosh, die Abend für Abend niemanden kalt lässt und die das – großteils touristische Publikum – zu wahren Begeisterungsorgien hinreißt.

Was gibt es da zu sehen? Mackintosh hat die Handlung des 1965 Oscar-prämierten Fantasyfilms aus dem Jahr 1910 in das viktorianische Zeitalter mit seinen Parkwächtern und Hausköchinnen zurück versetzt; die literarische Vorlage zu Film und Musical spielt überhaupt erst in den 1930-Jahren.

Das feenhaft gute Kindermädchen der Bürgerfamilie am Kirschbaumweg 17 wurde zunächst in Englisch mit neuen Szenen und Lieder beschenkt. Die Mary in der Regie von Richard Eye ist eine provozierend selbstbewusste junge Frau, kämpft charmant und bestimmt gegen falsche Erziehungsmethoden und die Diktatur der internationalen Finanzwelt.

Der zweite Vorgang, der das Publikum scharenweise ins Ronacher treibt, ist wohl der Wandel des modernen Theatergeschehens selbst. Vorbei die Zeiten, da ein der deutschen Sprache gar nicht mächtiger Charly Chaplin auf einer Europareise in einer Loge des Ronacher saß und gebannt einer Darstellung des Pompfunebrers lauschte, die dem nuschelnden Volksschauspieler Hans Moser auf den Leib geschrieben worden war.

Zu solchen intimen Momenten ist das moderne Musiktheater gar nicht fähig. Keine Stimme in Mary Poppins ertönt ohne elektronische Verstärkung, kein Instrument erklingt im klassischen Orchesterforte. Alle Szenen sind überladen mit Effekten, auf technische Überwältigung aus. Die unheimlich präzise Choreographie folgt der Ästhetik des zeitgemäßen Filmschnitts, dessen Erfinder bekanntlich fest daran glauben, die Aufmerksamkeit der Zuseher durch ständig wechselnde optische Reize fesseln zu müssen.

Man könnte pessimistisch werden und sagen, dass dieses Musiktheater nicht mehr auf die ihm eigenen Mittel vertraut, sondern die Aufmerksamkeit brachial mit Akrobatik und einer rammelnden Bühnenmaschine steuert.

Aber das wäre nur die halbe Wahrheit! Die Publikumsbedürfnisse haben sich eben gewandelt, im Musicaltheater wachsen seit Jahrzehnten Operette und Zirkus, Familienaufstellung und Neue Medien zusammen.

Man meint immer wieder vor einem Artpop-Video zu sitzen: die Bühne unnahbar fern, jeder Tanzschritt mit nem’ Teelöfel Zucker. In der Gestalt von Mary Poppins blitzt Lady Gaga auf, Mister Banks arbeitet für Michael Endes graue Männer, man schlürft aus Riesenkochlöffeln Krautsaft und Fischöl, man verlacht Korrektheit und Ordnung.

Die Statuen im Park erwachen zu Living Mannequins. Als Symbol gelungenen Familienlebens flattern Drachen im Wind. – Dann wieder, nur Sekunden später, ist es, als träumten die Tanzkapitäne von einem Gras-Tourismus nach Denver.

Man spielt also ein faszinierend temporeiches, ja atemloses Spiel. Der Text gehört zu den unwichtigsten Nebensachen. Und was nutzt denn auch das ganze, von Wolfgang Adenberg gekonnt übersetzte Wortmaterial, wenn die multisprachige Holländerin Annemieke van Dam in der Rolle der Pädagogin von den Kindern fordert, die Bereitschaft zur Kooperation müsse »von innen« kommen, wenn sie doch nur »von ihnen« kommen soll?

Gewiss, eine Kleinigkeit, aber symptomatisch dafür, wie weit sich dieses High-Tech-Geschichtenerzählen vom klassischen Theaterabend entfernt hat.

Um die gelungene Vorstellung abzurunden, braucht auch die moralische Botschaft am Ende nicht zu stimmen. Als sich der Versager Georges Banks (»Good for Nothing«) im Finale wenig überraschend als weitsichtig vorausschauender Schutzengel der Bank entpuppt, da wird der Mann als Dank für die Rettung des Unternehmens per Akklamation zum Vizedirektor ernannt. Alles, was wir wollten – nun ist es passiert.

Mister Banks nimmt die Beförderung zum Vizedirektor unter der umjubelten Bedingung an, die Arbeit am operativen Geschäft der Bank  hinter seiner Familie zu reihen. Ein im wirklichen Leben, wie jeder weiß, unmöglich zu erfüllender Anspruch. Ein geschäftsführender Direktor ist entweder beruflich erfolgreich oder er ist privat glücklich. Beides zusammen gibt es nur am Brodway.

© Wolfgang Koch 2014

Foto: Deen van Meer – David Boyd als Bert

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https://blogs.taz.de/wienblog/2014/10/23/mary-poppins-das-musical-voellig-ohne-fehler/

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kommentare

  • Ich wohne nicht in Wien – schade diesbezüglich. Kommt das Musical nach Berlin?

    Unzählige Male dachte ich in den letzten Jahrzehnten an Mary Poppins. Genauer gesagt an eine Szene der Geschichte. Die Szene, wo Mary Popins den Kindern beim Aufräumen hilft. Alles Unaufgeräumte fliegt magisch durchs Zimmer an den rechten Platz. Wie schick und bequem so ein Zauber doch wäre!

    Tja, naja, immerhin bekam merkte ich mit der Zeit, dass eine interessante Geschichte als Ablenkung auch den Nutzen erfüllt, wie Fernseh-Serien nebenbei ansehn, abwechselnd Artikel in der taz lesen und nebenbei Dinge gleichwie berichtetes Geschehen einordnen, spannendes Web-Radio hören, Live-Ticker lesen …

    Super super gerne würde ich in der taz mal eine Geschichte über die durch märchenhafte Geschichten wie Mary Poppins vermittelten Lebenserfahrungen lesen! In einer Geschichte wie die in dem Film “Und täglich grüßt das Murmeltier” steckt meiner Überlegung nach mehr drin, als mensch auf den ersten Blick vielleicht annimmt. Zahlreiche Tage von mir fühlten sich jedenfalls so an wie bei dem Protagonisten aus dem Film. Egal was ich am Vortag erlebte, morgens nach dem Aufwachen tabula rasa. Same precedure …

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